Die Rueckkehr der Phaetonen
Ihren Worten in Ohnmacht fallen oder einen hysterischen Anfall bekommen würde, nicht wahr?«, sagte er. »Sie kennen keine Menschen aus meiner Generation. Ich habe in meinem Leben viele Schicksalsschläge einstecken müssen, aber zerbrochen haben sie mich keineswegs.« Er nahm Lucius’ Hand und legte sie an seine eigene Brust. »Sie sehen, mein Herz schlägt vollkommen ruhig, also können Sie unbesorgt sprechen. Sagen Sie mir endlich die ganze Wahrheit und hören Sie auf, Verstecken zu spielen. Welches Jahr ist jetzt?«
Lucius packte seine beiden Hände und drückte sie zusammen. »Sie sind ein erstaunlicher Mensch!«, sagte er aufgeregt. »Ich freue mich unendlich, dass Sie so sind. Man hat mir gesagt... mich gewarnt... ich habe die schlimmsten Folgen befürchtet.«
»Die Menschen, die es Ihnen gesagt haben, waren offenbar nicht so sehr an Schicksalsschläge gewöhnt. Und wir haben in einer stürmischen Zeit gelebt, haben uns den Schwierigkeiten angepasst und gelernt, damit fertig zu werden. Sagen Sie endlich, welches Jahr jetzt ist, oder nicht?«
»Diese Frage«, entgegnete Lucius, »kann ich jetzt nicht direkt beantworten. Wenn ich Ihnen eine Zahl nenne, wird sie Ihnen nichts sagen, und die Wahrheit werden Sie nach wie vor nicht kennen. Sie haben mir so viel Freude bereitet, Dmitrij, dass es für mich nun ganz leicht ist, meine Pflicht zu erfüllen -komisch, und vorher kam sie mir so schwer vor ... Wann sind Sie geboren?«, fragte er unerwartet.
»Neunzehnhundertvierzehn«, sagte Wolgin. »Was hat es aber mit meiner Frage zu tun?«
»Im Jahr neunzehnhundertvierzehn der christlichen Ära?«
»Ich habe von einer solchen Ära noch nie gehört. Aber wenn es für Sie verständlicher ist, ich bin im Jahr neunzehnhundertvierzehn nach Christus geboren worden. Sie stellen merkwürdige Fragen«, fügte Wolgin hinzu, »anstatt meine zu beantworten.«
Es schien, als hätte Lucius Wolgins Worte nicht gehört. Er sah ihn an, und in seinem Blick mischten sich Erstaunen, Begeisterung und Misstrauen. »Drei Jahre vor der Großen Revolution ...«, sprach er leise. »Das kann nicht sein!«
»Ist aber dennoch eine Tatsache«, sagte Wolgin. »Es ist genauso wahr wie das, dass mein Name Dmitrij Wolgin ist — und ich weiß noch, dass Sie sogar das als >fast bewiesen< bezeichnet haben, auch wenn ich nicht verstehen kann, warum.«
»Wenn ich Ihnen alles erzähle, werden Sie es verstehen. Ich sage jetzt nicht dasselbe, was ich denke, Dmitrij, aber es ist nur, weil meine ganzen Gedanken sich überschlagen. Das ist nicht so leicht... Ich weiß, dass Sie Dmitrij Wolgin heißen und viele Jahrhunderte von unserer Zeit geboren wurden. Aber verstehen Sie mich auch, für einen modernen Menschen ist es schwer ... einfach nur psychologisch schwer zu glauben, dass er einen der legendären Helden der Sowjetunion vor sich hat.«
»Haben Sie >legendär< gesagt?« Wolgin erhob sich ein wenig. »Lucius! Wenn Sie mein Freund sind, dann sagen Sie doch direkt und ohne Ausflüchte: Welches Jahr ist es jetzt?«
Lucius stand plötzlich auf und ließ den Blick über die Pavillonwände wandern. Es war so, als wolle er sich noch mal überzeugen, dass er sich in gewohnter Umgebung befand und dass dieses Gespräch mit Wolgin real war. Dann setzte er sich wieder hin. »Machen wir es doch mal der Reihe nach«, sagte er fast schon flehend. »Sie sind also drei Jahre vor dem Anfang der kommunistischen Ära geboren worden.«
»Der kommunistischen Ära?«
»Ja, die alte Zeitrechnung schließt man jetzt mit dem Jahr neunzehnhundertsiebzehn ab. Nach der Großen Revolution hat die Epoche angefangen, die als kommunistische Ära bezeichnet wird.«
Wolgin holte tief Luft und fragte, wobei er sich so ruhig wie nur möglich zu sprechen bemühte. »Und wie lange hat diese kommunistische Ära gedauert?«
»Genau tausend Jahre«, antwortete Lucius. Dann hat man mit einer neuen Zeitrechnung begonnen, die jetzt auch gültig ist.«
Wolgin begriff, dass noch ein wenig - und er würde vor würgender Aufregung einfach das Bewusstsein verlieren. Er drückte Lucius’ Schulter krampfhaft zusammen. »Und jetzt haben wir das Jahr?«
»Achthundertsechzig!«
Wolgin ließ sich auf das Kissen fallen. >Das ist entweder ein Traum oder Fieberwahn<, dachte er. >Das kann nicht sein!<
Mit all seinem Wesen wusste und spürte er aber, dass Lucius ihm die Wahrheit gesagt hatte. Seine Bewusstlosigkeit hatte fast zweitausend Jahre gedauert ... »Lucius!« sagte er. »Wenn es so ist,
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