Die Rueckkehr der Phaetonen
Opfer.«
Wolgins Staunen war so groß, dass er sogar die quälenden Fragen vergaß. Er sah, dass sein Gegenüber die Aufregung kaum noch zurückhalten konnte. Auf
Lucius’ gewöhnlich ernstem Gesicht war ein unnatürliches, angespanntes Lächeln erstarrt.
»Sie, Dmitrij«, fuhr Lucius mit derselben Stimme fort, die wie gefesselt klang, »wurden zum Opfer unersättlicher wissenschaftlicher Neugier. Das alles beweist, dass nicht einmal die Jahrhunderte dazu imstande sind, einen Menschen zu ändern und ihn vernünftiger zu machen, wenn es um den Wissensdurst geht. Dieser Durst ist endlos und nimmt oft grausame Formen an ...« Er sprang auf und lief einmal schnell zur Tür und wieder zurück.
Wolgin sah, wie fest Lucius seine Fäuste ballte und wie schwer er atmete. Er selbst war von Lucius’ Aufregung angesteckt worden. »Werden Sie doch ein wenig deutlicher«, sagte er. »Warum foltern Sie mich und sich selbst mit diesen Andeutungen? Ich denke, es gibt nichts, weswegen Sie sich schuldig fühlen sollten. Sie haben mir meine Gesundheit wieder gegeben. Ich bin jetzt gesünder, als ich es vor der Krankheit war. Und dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Also seien Sie doch mal etwas entschlossener, Lucius! Sie haben es hier mit einem Mann zu tun, und nicht mit jemandem, der sofort in Ohnmacht fallen würde.«
»Sie sind mir dankbar?« Lucius setzte sich wieder an den Bettrand. »Das sind Sie nur deswegen, weil Sie noch nichts wissen. Werden Sie denn immer noch so dankbar sein, wenn Sie alles erfahren?«
»Ich denke, ja. Sie haben bestimmt Angst zu sagen, dass ich mich fern von der Heimat befinde und dass seit dem Moment, als ich das Bewusstsein verloren habe, sehr viel Zeit vergangen ist. Aber das weiß ich doch! Selbst wenn viele Jahrzehnte vergangen sind, erschreckt es mich nicht.«
Lucius lächelte traurig. »Viele Jahrzehnte ...«, wiederholte er. »Es ist mir klar, dass es Sie nicht erschrecken würde. Aber ...«, er schwieg eine Zeitlang, seufzte schwer und sprach danach schnell, als hätte er Angst, es nicht mehr fertig zu bringen, zu Ende: »Was würden Sie sagen, wenn nicht viele Jahrzehnte vergangen wären, sondern viele Jahrhunderte?«
Wolgin zuckte zusammen. Das Mitgefühl, das er auf Lucius Gesicht sehen konnte, erschien ihm auf einmal boshaft. Die Erinnerung an alle unerklärlichen Sachen, die er vergeblich zu verstehen versuchte, zuckte wie ein Blitz durch seinen Verstand. Die merkwürdige, unbekannte Umgebung, die er seit dem Moment sah, als er wider zu sich gekommen war, bekam einen furchtbaren Hintergrund. Nein, so etwas konnte er natürlich nicht erwartet haben. »Was haben Sie gesagt?«, keuchte er.
»Die Wahrheit«, antwortete Lucius wieder mit seiner gewöhnlichen Stimme. Es schien, als hätte er sich, nachdem er die Wahrheit gesagt hatte, sofort wieder beruhigt. »Die Wahrheit, die Sie früher oder später sowieso erfahren würden. Aber ich war es, der es Ihnen sagen musste. Es ist schwer für mich, aber ich habe die meiste Schuld und muss ihre Konsequenzen selber tragen. Sie sind nicht nur in einem anderen Jahrhundert aufgewacht, sondern auch in einer neuen historischen Epoche.«
Wolgin schloss die Augen. Sein Verstand weigerte sich zwar nicht, das, was er da hörte, aufzunehmen, konnte es aber auch nicht so schnell verarbeiten.
Das war einfach unvorstellbar! Dennoch dachte er keine Sekunde daran, dass Lucius ihn belügen könnte. »Welches Jahr ist es denn jetzt?«, fragte er.
Es gab keine Antwort.
Wolgin öffnete die Augen. Ganz nah bei sich sah er Lucius’ schönen edlen Kopf mit hoher Stirn unter dunklem und dichtem Haarschopf. Lucius’ Stirn lag in Falten und er sah konzentriert geradeaus. Wolgin ließ den Blick mit ganz neuem Gefühl über die mächtige Gestalt seines Arztes wandern, so, als sähe er ihn zum ersten Mal. Das war also der Grund, warum diese Menschen so einzigartig aussahen. Das waren keine Mensch aus dem zwanzigsten Jahrhundert, wie er zuerst gedacht hatte. Das waren entfernte Nachkommen der Menschen, unter denen Wolgin geboren und aufgewachsen war. Das waren die Menschen aus einer neuen historischen Epoche!
»Welches Jahr ist jetzt?«, fragte Wolgin noch mal.
Lucius drehte sich um.
Wolgins dunkle Augen sahen ihn direkt und ruhig an. In ihnen war keine besondere Aufregung oder Angst zu sehen. Die dünnen Lippen waren fest zusammengepresst.
Wolgin lächelte beim Anblick freudiger Verblüffung, die er auf Lucius’ Gesicht sah. »Sie haben gedacht, dass ich von
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