Die Rückkehr der Zehnten
dich entdeckt. Glaub mir, wenn er mit dir fertig gewesen wäre, hättest du an weit mehr zu leiden gehabt als an einem lächerlichen kleinen Kratzer am Kopf. Du hast Glück gehabt, dass Wit mir einen Wink gegeben hat, wo du bist.«
»Was ist mit Karjan?«, sagte Lis und setzte sich auf, den Schmerz ignorierend.
Mokoschs Augen füllten sich mit Tränen. »Nur wenige konnten fliehen. Auf Niams Befehl haben die Krieger gnadenlos viele der Kuriere getötet. Einige leben noch und sind nun mit den anderen im Priesterturm gefangen. Niam hat eben auf dem Priesterplatz das Urteil verkündet.« Sie schluckte und fuhr mit Mühe fort: »Morgen, wenn die Sonne aufgeht, werden sie vor der Statue Poskurs dem Feuer geopfert. Aber sie sollen nicht ganz verbrannt werden, ihre Leichen werden vor den Stadtmauern an Holzbalken gebunden und aufgestellt. Sie sollen als Abschreckung und Warnung für die Sarazenen dienen.« Sie senkte den Kopf. »Es gibt keine Hoffnung mehr für Karjan und die anderen. Auch mein Schicksal ist besiegelt. Die Kuriere werden verraten, dass ich ihnen helfen wollte. Aber wenigstens dich konnten wir retten, Lisanja.«
Marzana drehte sich zu ihrer Schwester um. »Rede nicht so einen Unsinn über dein Schicksal. Um dich zu holen, müssen sie dich erst finden. Wir werden dich aus dem Palast bringen und verstecken.«
Mokosch lachte bitter auf. »Wo denn? In der Stadt? Jeder kennt mich. Oder vielleicht bei den Sarazenen?«
Lis stand schwankend auf. Levin!, dachte sie, im Gefängnis im Priesterturm. Wenigstens war er nicht tot. Aber Matej – und Tona? Waren sie auch gefangen worden? Ihr Geist arbeitete mit messerscharfer Klarheit. Unzählige Möglichkeiten, Vermutungen und Strategien kamen ihr in den Sinn, waghalsige Lösungen, halsbrecherische Aktionen, die nur einen Fehler hatten: Sie waren nicht durchführbar. »Es muss einen Weg geben«, wiederholte sie immer wieder wie ein Gebet. »Es muss!« Fieberhaft überlegte sie, ob nur der Hauch einer Chance bestand, Levin zu befreien. Nein, befand sie. Jetzt in die Stadt zu gehen wäre Selbstmord. Wenn er bis morgen im Gefängnis saß, blieb ihr nur eine Nacht, um eine Lösung zu finden. Sie selbst konnte ihm nicht helfen. Nicht allein. Doch was hatte Mokosch gesagt? Zu den Sarazenen? Die unwahrscheinlichste und gefährlichste aller Möglichkeiten begann vor ihren Augen zu tanzen und ließ sich nicht abschütteln. »Warum gehen wir eigentlich nicht zu den Sarazenen?«, flüsterte sie. Sie wusste, dass sie auf die Schwestern wie eine Wahnsinnige wirkte, dennoch ließ sie sich nicht beirren. »Die Desetnica will nicht zu uns kommen. Vielleicht wartet sie darauf, dass Antjana zu ihr kommt?«
»Willst du schwimmen, dummes Mädchen?«, spottete Marzana. »Gestern hat Niam die Boote der Fischer zerstören lassen, um die Stadt abzuschütten und auch den Kurieren die letzte Möglichkeit zu nehmen, aufs Festland zu kommen. Einige der gefangenen Kuriere haben unter der Folter die Geheimgänge verraten, die zum Stadttor führen. Sogar den Holzpfad zum Festland hat Niam zerstören lassen. Das Holz wurde in Scheite zerhackt. Aus dem Holz schichten sie draußen gerade den Scheiterhaufen auf.« Sie holte Luft und wetterte weiter. »Selbst wenn du schwimmen kannst, ist es aussichtslos. Die Strömungen sind so stark, du würdest ertrinken, bevor du auch nur in die Nähe der Küste kämst. Wenn dich vorher nicht die Sarazenen für einen großen Fisch halten und vom Boot aus aufspießen. Nein, ich werde dich und Mokosch verstecken. Zum Glück kenne ich einen Fischer, der…«
»Wenn es keine Boote mehr gibt, dann werde ich schwimmen, Strömungen hin oder her«, beharrte Lis. Sie fasste Marzana am Arm und zwang sie ihr zuzuhören. »Es ist weit, aber ich bin sicher, dass ich es schaffe. Gibt es denn überhaupt keinen Weg mehr aus der Stadt heraus? Es muss doch Geheimgänge geben, die Niams Leute noch nicht entdeckt haben.«
Marzana sah sie an und zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Ich kenne nur einen Gang und der führt zur Küste, aber da werde ich Mokosch nicht hinbringen. Sie kann nicht schwimmen.«
Lis’ Kopf pochte, der Schmerz ebbte wie Wellenschlag auf und ab. »Ich gehe durch den Gang! Wo ist er?«
Marzana und Mokosch sahen sie erstaunt an. Dann zog Marzana die Augenbrauen hoch und sah sich um. »Lisanja, überlege es dir, ich verstecke dich und…«
»Nein!« Fast hätte Lis geschrien. Leiser, aber ebenso scharf fuhr sie fort. »Du wirst mich nicht
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