Die Rueckkehr des Daemons
schien dort zu telefonieren. Ihre Stimme klang leicht genervt.
»Bin ich jetzt endlich beim National Park Service ? Wunderbar! Mein Name ist Waltraud Miller, das U.S. Department of the Interior hat mich an sie verwiesen. Ich habe ein paar Fragen wegen der Freiheitsstatue!«
Sid kämpfte mit sich. Rascal war die einzige Person auf der Welt, die ihm noch geblieben war. Musste er ihr nicht vertrauen? Ja, er musste! Also verbat es sich, sie zu belauschen. Er nahm seinen Kapuzenpulli vom Plattenspieler und blätterte Rascals Sammlung durch. Zwischen all den Bands, die ihm noch nichts sagten, entdeckte er auf einer Hüllenrückseite ein verwackeltes Foto: Kurt Cobain, der Mann, den er auf seinem T-Shirt mit sich durch die Welt schleppte. Gleich das erste Lied von Nirvana auf Smells like Teen Spirit krachte richtig los. Beim dritten Song platzte Rascal in den Raum.
»Du bist mir einer«, sagte sie lachend. »Da telefoniere ich extra ganz leise, damit du nicht aufwachst, und du hörst schon Klassik!«
»Hauptsache, du bist so gut gelaunt wie immer!«
»Bin ich!«, antwortete Rascal. »Und zwar aus gutem Grund. Was du mir erzählt hast, hat mir keine Ruhe gelassen. Ich hab ein bisschen rumtelefoniert und sensationelle Neuigkeiten!«, verkündete sie freudestrahlend. »Tatsächlich konnte die Statue erst mit zehnjähriger Verspätung eingeweiht werden. Doch die Fackel, Symbol der Aufklärung, wurde schon früher nach Amerika verschifft. Gegen die Gebühr von fünfzig Cent konnte man in Philadelphia mit einer Strickleiter ihren Arm hinaufsteigen, bis zur Plattform.«
Sid lachte. »Da musste man wenigstens nicht schwindelfrei sein.«
Rascal überging seinen Kommentar. »Pass auf, denn jetzt kommt der Hammer! Weißt du, ab wann die Fackel besichtigt werden konnte? Pünktlich zur Hundertjahrfeier, am 4. Juli 1876 – zwei Tage bevor unser Freund Attila seinen Brief abgeschickt hat!«
Sid war verblüfft. Rascal riss ihn mit ihrer unbändigen Energie immer weiter aufs offene Meer hinaus. Nur: Wartete dort draußen eine rettende Insel oder ein Tsunami? Leider brachte ihr Einsatz in diesem Fall nur immer weitere Hindernisse zutage.
»Schön zu wissen«, sagte er ernüchtert. »Aber das hilft uns leider auch nicht weiter. Die Fackel ist für uns unerreichbar! Seit 9/11 ist fast die gesamte Figur für Besucher gesperrt. Aus Angst vor Terroranschlägen.«
Rascal verzog ihr Gesicht zu einem geheimnisvollen Lächeln, das alles bedeuten konnte. Sid versuchte wie so oft aus ihr schlau zu werden. Vielleicht fand er sie deshalb so toll, weil es ihm nicht gelang?
»Du alter Pessimist steckst den Kopf immer zu früh in den Sand. Dass sie gesperrt ist, stimmt! Aber das kann uns egal sein! 1986 wurde die Lady renoviert und die komplette Fackel ausgetauscht!«
Sie wedelte mit einem Zettel.
»Die Originalfackel, die Nagy besichtigt hat, steht jetzt im Liberty-Museum hier in New York!«
Sid fühlte die Gefühle in sich überbrodeln. Am liebsten wäre er Rascal um den Hals gefallen und hätte ihr einen Kuss auf die Wange gedrückt. Aber er dachte eine Sekunde zu lange darüber nach.
»Gute Arbeit!«, sagte er halblaut. So was Bescheuertes! Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Schnell drehte er sich um und sah auf die Zeitanzeige seines Handys.
»Noch haben die geschlossen«, bestätigte Rascal, und er hörte das Lächeln in ihrer Stimme. »Leg doch mal die Sex Pistols auf, dann bringe ich dir was über Punk-Rock bei!«
65. Kapitel
NYC , Bronx, 11. Oktober 2007, 9 Uhr
Bei Tageslicht betrachtet war das Viertel fast so friedlich wie im Jahre 1639, als der dänische Kapitän Jonas Bronck im Norden von Manhattan eine Farm baute und damit den Stadtteil gründete, der bald schon seinen Namen tragen würde. Nur die vernagelten Fenster und der typische Abfall der Unterschicht, den der Wind durch die Straßen wehte, schürten bei Birger Jacobsen eine leise Ahnung davon, was das Dunkel hier jede Nacht aufs Neue von der Kette ließ.
Schnellen Schrittes durchquerte er unbehelligt ein paar Blocks, Bilder der Ostkant in Oslo, seinem Geburtsort, drängten sich ihm ins Gedächtnis. Hier wie dort wurden Kinder zu schnell erwachsen, von Not und Elend in Rollen gestoßen, die sie nicht ausfüllen konnten, aber mit großen Gesten nachzuahmen versuchten. Crack war der moderne Nachfolger des selbst gebrannten Fusels der Hafenarbeiter. Allesamt Verlierer, so wie er – früher.
Nicht diese entwürdigenden Erinnerungen erzürnten Birger
Weitere Kostenlose Bücher