Die Rückkehr des friedvollen Kriegers
schmerzendes Handgelenk.
»Um anderen Leuten wirklich helfen zu können, mußt du sie erst einmal verstehen – aber du kannst jemand anders nicht verstehen, solange du selbst dich nicht begreifst. Erkenne dich selbst; bereite dich vor; entwickle die innere Klarheit, den Mut und die Sensibilität, um am richtigen Ort und zum richtigen Zeitpunkt die richtige Hebelwirkung zu entwickeln. Und dann handle.«
Das war das letzte, woran ich mich noch erinnerte. Dann sank ich in tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen kam Sachiko mit frischen Früchten und einem Krug Wasser. Dann winkte sie zum Abschied, rief: »Ich muß in die Schule« und rannte wieder hinaus.
Bald darauf kam Mama Chia. Sie rieb mir wieder Gesicht, Nakken und Brust mit der angenehm riechenden Salbe ein. »Deine Haut heilt gut – wie ich es erwartet hatte.«
»Ja. In ein paar Tagen dürfte ich wieder reisefertig sein.« Ich setzte mich auf und räkelte vorsichtig meine Glieder.
»Reisefertig?« fragte sie. »Du meinst, du möchtest schon wieder woanders hinfahren? Und was willst du dort finden – das gleiche wie in Indien?«
»Woher weißt du denn das?« fragte ich verblüfft.
»Wenn du begriffen hast, woher ich das weiß«, sagte Mama Chia, »dann wirst du bereit sein, deine Reise fortzusetzen.« Sie musterte mich mit einem durchbohrenden Blick. »Abraham Lincoln hat einmal gesagt, wenn er sechs Stunden Zeit hätte, um einen Baum zu fällen, würde er die ersten fünf Stunden damit zubringen, seine Axt zu schärfen. Vor dir liegt eine große Aufgabe – und du bist noch nicht geschärft dafür. Es braucht Zeit und ungeheuer viel Energie.«
»Aber es geht mir von Tag zu Tag besser. Bald werde ich wieder genug Energie haben!«
»Ich rede nicht von deiner Energie, sondern von meiner.«
Ich ließ mich wieder aufs Bett zurücksinken. Plötzlich kam es mir vor, als sei ich eine Bürde für sie. »Ich sollte jetzt wirklich gehen«, sagte ich. »Es gibt so viele andere Menschen, um die du dich kümmern mußt. Ich will dir nicht zur Last fallen.«
»Zur Last fallen?« wiederholte sie. »Fällt der Diamant etwa dem Edelsteinschleifer zur Last? Oder das Eisen dem Schmied? Bitte, Dan, bleib noch eine Weile. Ich kann mir keine bessere Möglichkeit vorstellen, meine Energie einzusetzen.«
Ihre Worte gaben mir wieder Mut. »Also gut«, sagte ich lächelnd. »Vielleicht wirst du es gar nicht so schwer mit mir haben, wie du glaubst. Ich bin ein guttrainierter Sportler. Ich kann mich einsetzen. Und ich habe auch viel Zeit bei Socrates verbracht.«
»Ja«, sagte sie. »Socrates hat dich auf mich vorbereitet; und ich werde dich auf das vorbereiten, was danach kommt.« Sie schraubte den Salbentopf zu und stellte ihn auf die Kommode.
»Und was kommt danach? Hast du etwas Bestimmtes mit mir vor? Was machst du überhaupt hier auf Molokai?«
Sie lachte. »Ich spiele verschiedene Rollen. Für jeden Menschen trage ich einen anderen Hut. Nur für dich trage ich keinen.« Sie hielt inne. »Meistens helfe ich meinen Freunden. Manchmal sitze ich einfach nur da und tue gar nichts. Und manchmal übe ich, meine Form zu verändern.«
»Deine Form zu verändern?«
»Ja.«
»Wie geht denn das?«
»Oh, das bedeutet, daß ich zu etwas anderem werde, mit den Geistern von Tieren, Steinen oder dem Wasser verschmelze – so etwas in der Art. Daß ich das Leben aus einer anderen Perspektive betrachte, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Aber du …«
»Ich muß jetzt gehen«, fiel sie mir ins Wort. »Ich muß noch andere Besuche machen.« Sie hob den Rucksack auf, den sie neben dem Bücherregal abgelegt hatte, griff nach ihrem Bambusstock und war verschwunden, noch ehe ich ein Wort sagen konnte.
Mühsam richtete ich mich wieder auf. Aber ich konnte sie durch die offene Tür kaum noch erkennen. Ihren Bambusstock schwingend, humpelte sie den verschlungenen Waldweg hinauf.
Ich lehnte mich zurück, blinzelte in die dünnen Sonnenstrahlen, die durch Löcher in den zugezogenen Vorhängen ins Zimmer drangen, und fragte mich, ob ich die Sonne wohl je wieder als angenehm empfinden würde.
Ich hatte einen Rückschlag erlitten – aber wenigstens hatte ich Mama Chia gefunden. Wachsende Aufregung durchprickelte meinen Körper. Der Weg, der vor mir lag, war sicherlich schwer zu gehen – vielleicht sogar gefährlich –, aber wenigstens war er nicht mehr durch Hindernisse verstellt.
6
NEUE WEGE ÖFFNEN SICH
Der direkteste Weg ins Universum führt durch einen dichten
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