Die Rückkehr des friedvollen Kriegers
Wille geschehe.«
Der metallische Geschmack panischer Angst stieg in meiner Kehle auf. Dann begann Mama Chia mit ihren Fingerknöcheln langsam an meinen Schlüsselbeinen, meiner Brust und meinen Armen entlang zu drücken – zuerst sanft, dann immer kräftiger. Wieder sah ich Blitze vor den Augen. Dann hörte ich knallende Geräusche. Schließlich packte Mama Chia mich am Kopf, wie Socrates es vor Jahren getan hatte. Meine Zähne begannen zu klappern; dann senkte sich der Vorhang der Dunkelheit über mich.
Wieder hörte ich den Wind heulen, spürte, wie mir Staub ins Gesicht blies, und sah den Turm direkt vor mir. Diesmal kam mir das Ganze aber nicht mehr so vor wie eine geisterhafte Vision, bei der mein Bewußtsein lediglich Beobachter war. Ich blickte an mir
hinunter und sah meinen Körper. Ich war tatsächlich hier – vor dem Turm.
Dann stand ich vor dem Eingang. Die mächtige Tür ging auf – sie sah aus wie ein weit aufgesperrter Rachen –, und ich trat ein oder genauer gesagt, ich trat in die Luft. Ich fiel, überschlug mich und landete auf irgend etwas. Rasch erhob ich mich wieder und sah mich um, aber in der Dunkelheit konnte ich kam etwas erkennen. »Das hier muß das erste Stockwerk sein«, murmelte ich vor mich hin. Meine Stimme klang gedämpft. Meine Kleider klebten an meiner Haut, und die unangenehm feuchte Luft und der üble Verwesungsgeruch kamen mir irgendwie bekannt vor. Du mußt die Lichter finden, sagte ich zu mir. Sei bereit, dir das alles anzusehen.
Vorher hatte ich nur durch die Fenster des Turms geschaut. Wollte ich wirklich erfahren, was in meinem Inneren lag, hier in diesem untersten Bereich?
»Ja«, antwortete ich laut. »Ja, ich will es sehen!« Langsam tastete ich mich in der Dunkelheit vorwärts. Plötzlich spürte meine Hand etwas – einen großen Griff, einen Schalter! Ich zog daran, hörte ein summendes Geräusch, das dann in ein leises Zischen überging, und kniff die Augen zusammen, als die Szene vor mir allmählich von matten Lichtern erhellt wurde.
Warum war es immer noch so dunkel? Während meine Augen sich langsam an das trübe Licht gewöhnten, erkannte ich den Grund. Ich hatte den Turm betreten und war im ersten Stockwerk gelandet, aber irgendwie gehörten zu diesem Stock auch die Nacht und dieser Friedhof – der Friedhof der Kahunas. Diesmal fühlte ich mich hier jedoch gar nicht willkommen. Und diesmal war ich allein! Ich sah das klaffende offene Grab in meiner Nähe und begann zu zittern. Plötzlich packte mich eine unsichtbare Macht und zog mich zu dem offenen Grab hin. Ich schwebte in der Luft, wand und drehte mich und versuchte vergeblich, mich gegen diese Macht zu wehren. Dann wurde mein Körper steif wie eine Leiche in Todesstarre, und ich schwebte auf das Laken hinunter, das neben dem Grab lag.
Ich versuchte aufzustehen, aber ich konnte mich nicht rühren. Meine Lungen begannen zu pumpen, und ich atmete immer tiefer
und schneller. Dann hörte ich aus weiter Ferne Mama Chias Stimme: »Dein Höheres Selbst ist dein Schutzengel. Was auch passieren mag, denke daran, daß es immer bei dir sein wird …«
»Aber warum kann ich es dann nicht spüren?« rief ich verzweifelt.
Dann fielen mir Mama Chias Worte wieder ein, als seien sie eine Antwort auf meine Frage: »Ehe du das Licht sehen kannst, mußt du dich erst einmal mit der Dunkelheit auseinandersetzen.«
Etwas schob mich vor sich her. Ich war wie gelähmt; ich hatte keine Kontrolle mehr über meinen Körper und konnte mich nicht wehren. Ich fiel, stürzte im Zeitlupentempo in das offene Grab hinab und landete mit einem geräuschlosen dumpfen Schlag auf dem Rücken. Ein Laken wurde um mich gewickelt wie ein Leichentuch. In einem Augenblick namenlosen Schreckens spürte ich, wie Schaufeln voll Erde auf mich niederprasselten. Mein Herz begann wild zu hämmern.
Dann hörte ich aus der Ferne Donner rollen. In der Dunkelheit zuckten Blitze auf. Während immer mehr Erde auf mich herabfiel, hörte ich die Stimme Jesu Christi. Aber er sprach nicht zu mir; er hatte keine beruhigenden Worte für mich. Während am Himmel Blitze zuckten, schrie er in Todesangst vom Kreuz von Golgatha herab: »Warum hast du mich verlassen?« Plötzlich wurde mir klar, daß das meine eigene Stimme war. Aber das machte nichts; niemand konnte mich hören. Inzwischen hatte die Erde mein Gesicht schon völlig zugedeckt und erstickte meine Schreie.
Halt! rief ich in Gedanken. Dafür bin ich noch nicht bereit! Ich kann nicht!
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