Die Rückkehr des friedvollen Kriegers
hinter dir«, sagte sie und zeigte hinter mich.
Entsetzt wirbelte ich herum, doch zunächst sah ich überhaupt nichts. Ich spürte nur eine überwältigende Gegenwart, eine Kraft, die mir solche Ehrfurcht einflößte, daß ich einen Schritt zurücktrat. Mein Körper erstarrte zu Eis. Was ich spürte, war nichts Böses, aber eine Macht, die in der Lage war, mich innerhalb von Sekunden in ein Häuflein Asche zu verwandeln, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken – eine Energie voller Mitgefühl, aber ohne Gnade.
»Er war und ist immer noch ein mächtiger Kahuna. Seit seinem Tod vor vierhundert Jahren ist er hier und wacht über Molokai. Wir müssen ihn um Erlaubnis bitten, uns hier aufhalten zu dürfen«, sagte Mama Chia sehr ehrfürchtig.
»Und wie macht man das?«
»Hast du noch nie jemanden um Erlaubnis gebeten, in sein Haus eintreten zu dürfen?«
»Doch …«
»Dann rate ich dir, das zu tun, und zwar jetzt «, zischte sie mir zu.
Sie schloß die Augen, ich folgte ihrem Beispiel. Kaum hatte ich das getan, sah ich ihn vor meinem geistigen Auge. Er stand direkt vor mir. Ich riß die Augen wieder auf – und sah nur die Bäume in der Ferne und die Grabsteine auf der kleinen Lichtung. Dann senkte ich die Lider, und er war wieder da und starrte mich mit einem grimmigen, aber zugleich auch liebevollen Gesichtsausdruck an – ein großer Mann, der irgendeine zeremonielle hawaiianische Kopfbedeckung trug. Er sah aus, als wollte er mich in die Arme schließen oder aber mit einer einzigen Handbewegung für immer vom Erdboden wegfegen. Er erinnerte mich an den Hindugott Shiva – den Verwandler und Zerstörer.
Schweigend und respektvoll bat ich um Erlaubnis, hier sein zu dürfen, und erklärte, wonach ich suchte. All das dauerte nur ein paar Sekunden. Lächelnd nickte er und verblaßte wieder vor meinem inneren Auge.
»Das war’s«, hörte ich Mama Chia sagen.
Dann veränderte sich die Atmosphäre beinahe von einer Sekunde auf die andere. Eine warme Brise umfing mich, während mir vorher der Wind kalt in den Nacken geblasen hatte. Ich schlug die Augen auf.
Mama Chia nickte. »Er hat gesagt, du bist hier willkommen. Ich glaube, er mag dich sogar. Das ist ein sehr gutes Zeichen.« Sie griff hinter einen der Grabsteine und holte etwas hervor.
Ich entspannte mich wieder. »Das freut m…« Erschrocken hielt ich inne, als sie mir eine Schaufel in die Hand drückte und mich zu einer kahlen Fläche auf dem Friedhof führte.
»Es wird Zeit zum Graben.«
»Was?« Fassungslos warf ich meinen Kopf so abrupt zu ihr herum, daß ich mir beinahe einen Nackenmuskel verzerrt hätte.
Sie ignorierte meine entsetzte Reaktion. »Grabe hier«, forderte sie mich auf.
»Graben? Hier? Ein Loch? Suchen wir etwas Bestimmtes?«
»Ja. Ein Grab.«
»Mama Chia«, sagte ich, »ich bin ein erwachsener Mensch. Ich treffe verantwortungsbewußte Entscheidungen. Ehe ich etwas anfange, möchte ich wirklich gern wissen, was es für einen Sinn hat.«
»Und ich möchte wirklich gern, daß du jetzt aufhörst zu reden und anfängst zu graben«, erwiderte sie. »Was du jetzt gleich tun wirst, muß sein. Es beruht auf einem alten tibetischen Ritual, bei dem wir allen unseren Ängsten ins Auge sehen. Wenn jemand sich unvorbereitet darauf einläßt, kann er eine Psychose bekommen, die er sein Leben lang nicht wieder loswird. Bei dir habe ich das Gefühl, daß du bereit bist; aber man kann nie sicher sein. Also: Willst du oder willst du nicht?«
Das war es: Vogel, friß oder stirb. Oder eher: Friß und stirb. Socrates hatte einmal zu mir gesagt, ich könne jederzeit »aus dem Bus aussteigen« – ich müsse es nur fertigbringen, ihn ohne mich abfahren zu lassen.
»Ich muß es jetzt gleich wissen, Dan.«
Ich schrak auf, als hätte ich eine Ohrfeige bekommen. »Oh … Hmm … Na ja …« Ich hielt inne, um Atem zu schöpfen, und beschloß,
mich daran zu halten, was schon immer mein Prinzip gewesen war: Wenn ich mit einer Herausforderung konfrontiert wurde, dann nahm ich sie auch an. »J… ja«, stammelte ich.
»B… bereit w… wie immer.«
Es ging darum, meinen Ängsten ins Auge zu sehen. Also begann ich zu graben. Die Erde war weich, und die Arbeit ging mir rascher von der Hand, als ich erwartet hatte. Mama Chia verschränkte die Arme vor der Brust und sah nur zu. Ich begann einen sechzig Zentimeter breiten und etwa einen Meter achtzig langen Kanal zu graben. Allmählich wurde das Loch tiefer – erst einen Meter, dann einen Meter
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