Die Rückkehr des friedvollen Kriegers
Scham. Bis ans Ende meiner Tage – egal, wie lange das dauern mochte – würde ich die Lebensenergie jetzt ungehindert durch mich hindurchfließen lassen. Ich würde lernen, sie klug einzusetzen, und mir überlegen, in welche Kanäle ich sie lenken sollte – das Leben genießen und feiern, aber nicht ausleben bis zum Exzeß.
Dann ging alles sehr schnell. Ich sah, daß ich jetzt wieder völlig angezogen war, und meine Umgebung – die Höhle und die Lichtung – begann zu flimmern und verschwand. Beides überraschte mich nicht.
Im nächsten Augenblick, den ich bei Bewußtsein erlebte, stand ich irgendwo hoch oben auf einem Berg. Der Wind pfiff laut an Felsen und Granitspalten vorbei und hätte Mama Chias Stimme hinter mir beinahe übertönt.
»Komm«, sagte sie. »Es wird Zeit, daß wir uns wieder auf den Weg machen.«
»Gerade eben war ich doch noch allein. Warum bist du jetzt plötzlich wieder bei mir?« fragte ich. Meine Stimme hallte eigenartig von den Felsen wider.
»Vorher mußtest du allein sein, jetzt stehst du mit der Welt in Verbindung. Außerdem befinden wir uns in der Traumzeit – ich habe gar nichts getan. Willkommen im dritten Stockwerk!«
Wir stiegen weiter bergauf, und die Erde unter mir, die Steine, die Bäume, der Wind verliehen mir Kraft – sie waren Fleisch von meinem Fleisch. Ich kämpfte nicht mehr gegen meinen Körper an. Jetzt akzeptierte ich meine körperlichen Mängel, vertraute auf meine menschliche Natur und fühlte mich enger mit der Erde verbunden als je zuvor.
Wir entdeckten einen kleinen See, schwammen im kühlen Wasser und streckten uns dann zum Trocknen auf den warmen Felsen aus. Mein Körper öffnete sich der Natur. Ich spürte die heitere Ruhe des
Sees, die Kraft des Flusses, die Festigkeit und Unveränderlichkeit der Berge, die Schwerelosigkeit des Windes. Mama Chia blickte zu mir herüber. »An diesem Ort fühle ich, was du fühlst, und bin, was du bist«, sagte sie. »Du hast eben deine Form verändert – oder warst jedenfalls im Anfangsstadium dazu.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Formveränderung beginnt mit einem kleinen Wink der Phantasie – einem neugierigen Sichfragen: Was wäre es wohl für ein Gefühl, ein Berg zu sein, oder ein See, ein Vogel, ein Stein? Und später schwingst du dann tatsächlich in der gleichen Frequenz wie diese Elemente oder Geschöpfe. Das können wir, denn schließlich sind wir alle aus demselben Stoff.
Und da wir gerade von Formveränderung sprechen – ich glaube, du weißt, daß ich in dieser Höhle im zweiten Stockwerk auf dich eingestimmt war. Das war ein Abenteuer!« sagte sie. »Ich habe mich wieder richtig jung gefühlt!«
»Ich glaube, du wirst immer jung sein, Mama Chia.«
Sie lächelte. »Da hast du recht – bis ich sterbe …«
»Wenn du so weitermachst, überlebst du mich wahrscheinlich«, sagte ich leichthin.
Sie sah mir tief in die Augen und lächelte. Aber diesmal war es ein anderes Lächeln. Es machte mich traurig, ich wußte selbst nicht warum. Ich sah die Liebe in ihren Augen, aber auch etwas anderes. Ich spürte eine Besorgnis in ihr – eine Intuition –, aber ich konnte beim besten Willen nicht ergründen, was hinter diesem Lächeln steckte.
Mama Chia riß mich aus meinen Grübeleien. Sie forderte mich auf weiterzugehen und erinnerte mich noch einmal daran, was ich im zweiten Stockwerk gelernt hatte: »Du hast dir deine Erfahrung selbst erschaffen, Dan – genau wie im ersten Stock. Du hast das erlebt, was du brauchtest. Die Energien sind für alle Menschen dieselben; sie machen nur unterschiedliche Erfahrungen damit. Jeder entscheidet selbst, wie er auf seine Energie reagieren möchte, in was für eine Richtung er sie lenkt. Manche Menschen horten diese Energie, andere vergeuden sie. Ein Krieger lenkt den Fluß des Lebens in bestimmte Kanäle, so wie ein Bauer seine Felder bewässert.
Im ersten Stockwerk bist du allein und kämpfst ums Überleben. Ängstlich hortest du die Energien des Lebens, so wie ein einsamer Geizkragen sein Geld nicht hergeben will, und weil die Energien blockiert sind, verursachen sie Schmerz.
Im zweiten Stock stehst du in Beziehung zum Leben, zu anderen Menschen. Das männliche und das weibliche Prinzip sind aktiviert und befinden sich im Gleichgewicht.
Im zweiten Stockwerk geht es nicht nur um Sex. Es geht darum, die Lebensenergie zu feiern. Energie ist Geist, ist etwas Heiliges. Menschen, die im Umgang mit der Energie nicht geübt sind, neigen dazu, sie wie
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