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Die Rückkehr des friedvollen Kriegers

Die Rückkehr des friedvollen Kriegers

Titel: Die Rückkehr des friedvollen Kriegers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Millman
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ging ich. »Ich hole dich in etwa einer Stunde in deiner Hütte ab«, rief Mama Chia mir nach.

17
DER MUT DER GEÄCHTETEN
    Wenn ich nicht für mich da bin,
Wer soll dann für mich dasein?
Und wenn ich nur für mich da bin,
Was bin ich dann?
Und wenn nicht jetzt – wann dann?
     
    HILLEL, ›Sayings of the Fathers‹
     
     
    Wie sich herausstellte, war diese Wanderung fast genauso lang wie die vorige, aber sie führte in die entgegengesetzte Richtung. Diesmal konnten wir einen Teil der Strecke mit einem Farmer mitfahren, der auf Molokai wohnte – eine lange, unbefestigte Straße, die fast bis zum Berg hinaufführte. Von dort gingen wir zu Fuß weiter. Wir blieben auf dem Weg, der erst steil abfiel und dann wieder anstieg.
    Jedesmal, wenn Mama Chia vor Anstrengung zu keuchen begann, fragte ich sie voller Sorge, wie es ihr ging. Beim vierten oder fünften Mal wandte sie sich zu mir um – dem Zorn so nahe, wie ich sie noch nie gesehen hatte – und sagte: »Wenn du mich noch ein einziges Mal fragst, wie es mir geht, schicke ich dich mit einem Fußtritt zurück nach Hause! Verstanden?«
    Am Spätnachmittag, als wir gerade die letzte Steigung bewältigten, blieb Mama Chia plötzlich stehen und streckte den Arm aus, um mich zu stoppen. Hätte sie das nicht getan, so hätte mir wahrscheinlich eine kurzlebige Karriere als Vogel bevorgestanden. Wir standen am Rand einer Klippe, die dreihundert Meter tief abfiel. Vor uns lag eine phantastische Aussicht: Über einem endlosen blaugrünen
Meer zogen die Wolken dahin, und tief unter uns schwebte ein Albatros über der Brandung. Ich folgte dem Vogel mit den Augen. Da sah ich unten eine Art Siedlung, von hohen Palmen umgeben. Mama Chia zeigte darauf.
    »Kalaupapa«, sagte sie.
    »Was ist das?« fragte ich.
    »Ein Schlüssel zum Fahrstuhl in die oberen Stockwerke.«
    Ich hatte nur ein paar Sekunden Zeit, um darüber nachzudenken, denn Mama Chia hatte sich schon umgewandt und stieg in ein Erdloch. Ich folgte ihr und fand mich auf einer Art Treppe im Inneren der Felswand wieder. Sie war steil und dunkel. Wir sprachen kein Wort. Ich mußte meine ganze Aufmerksamkeit darauf konzentrieren, den Halt nicht zu verlieren.
    Nach einer Zeit verließen wir das Innere des Felsens wieder, traten hinaus ans Sonnenlicht und setzten unseren Abstieg außen an der Felswand fort. Wir hielten uns dabei an Griffen fest, die am Felsen angebracht waren. Ein Sturz auf die Klippen unter uns wäre tödlich gewesen. »Diesen Weg benutzen nur wenige Leute«, erklärte Mama Chia.
    »Das kann ich verstehen. Bist du noch in Ordnung?«
    Sie warf mir einen wütenden Blick zu. Dann erklärte sie: »Es gibt auch einen Maultierpfad, aber der führt im endlosen Zickzack nach unten. Auf diesem Weg hier geht es viel schneller.«
    Schweigend kletterten wir weiter nach unten. Nach einer letzten steilen Biegung wanderten wir in ein weites Tal hinab, das zwischen Bergen, Klippen und Meer eingebettet war. Vor uns lag eine kleine, von üppigem Grün und Baumreihen eingerahmte Siedlung. Dahinter war nur Sand und Wasser zu sehen. Inmitten von Palmen standen in ordentlichen Reihen barackenähnliche Häuser, einfach und schmucklos, und ein paar kleine Hütten. In ihrer geschützten kleinen Bucht wirkte die Siedlung eher spartanisch als luxuriös – mehr wie ein militärischer Außenposten als ein Ferienparadies.
    Als wir näher kamen, sah ich draußen ein paar Leute. Einige ältere Frauen arbeiteten auf einem Stück Land, das wohl ein Garten
war. Ein Mann, der auch schon älter war, saß allein an einer Art Schleifmaschine – ich konnte aus der Ferne nicht genau erkennen, was es war.
    Als wir die Siedlung durchstreiften, blickten die Leute zu uns empor – mit freundlichen, vielfach zernarbten Gesichtern. Die meisten nickten und lächelten Mama Chia zu, die hier offenbar allen bekannt war. Andere beachteten uns kaum und konzentrierten sich auf ihre Arbeit. »Das sind die Leprakranken von Molokai«, flüsterte Mama Chia mir leise zu. »Im Jahr 1866 wurden die ersten Leprakranken hier ausgesetzt – weil ihre Mitmenschen in ihrer Unwissenheit Angst vor ihnen hatten. Sie mußten hier unter Quarantäne leben und einsam sterben. 1873 kam Pater Damien hierher, um der Gemeinde zu dienen. Schließlich bekam er auch Lepra. Sechzehn Jahre später ist er gestorben«, erklärte sie.
    »Was – er ist an der Krankheit gestorben? Ist die denn anstekkend?«
    »Ja, aber man steckt sich nicht so leicht an. Du brauchst dir deshalb

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