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Die Rueckkehr des Henry Smart

Die Rueckkehr des Henry Smart

Titel: Die Rueckkehr des Henry Smart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roddy Doyle
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rutschen lassen, der Mann mit dem Bein konnte nicht ordentlich zugreifen. Aber sie waren fix, trugen mich zügig durch dicken Staub, vorbei an Lebenden und Toten. Ich sah mich um. Es war schlimmer als alles, was ich je gesehen hatte. Das machte alles einfach keinen Sinn. Dublin 1974. Ein warmer Tag, Spätnachmittag. Ich hatte gerade meine Jacke ausziehen wollen, da war um mich herum alles – Menschen und Häuser – auseinandergeflogen.
    Ich war raus von da, noch ehe die dichten Mauern aus graugelbem Rauch sich verzogen hatten. Viel konnte ich nicht sehen, aber manches kam Tage, Jahre später zurück: Ich wachte in meinem Bett auf und hatte Rauch und Asche in Mund und Nase. Lange Zeit fürchtete ich mich vor dem Schlaf.
    Ich hörte Ledersohlen über Glasscherben knirschen, knöchelhoch lagen sie da, wo vorher die Fensterscheiben gewesen waren. Ich hörte das qualvolle, fassungslose Stöhnen und Schreien; körperlose Laute, letzte Worte und Schnaufer, die über den Tod hinaus in der Luft hingen. Das schwere Atmen von Menschen, die sich mühten, keine Luft zu holen. Die Sirenen, die nicht näher herankommen konnten.
    Ich sagte den Jungs, die mich trugen, sie sollten mein Bein holen, aber sie ließen sich nicht aufhalten. Sie waren tapfer – aber nur so lange, wie sie in Bewegung blieben, denn dahinter lauerte die Angst vor weiteren Bomben. Ich hatte noch zwei Explosionen gehört, eine davon ganz in der Nähe, als ich auf die Trage wartete. (Wochen später sah ich den Kinderwagen. Als es mich hingehauen hatte, war ein schwarzer Kinderwagen an meinem Gesicht vorbeigesegelt. Ich wartete auf das Baby. Oder die Mutter. Jedes Mal, wenn ich die Augen zumachte, wartete ich auf das Baby. Aber es kam nie angeflogen. Auch kleine Kinder waren an dem Tag gestorben, aber ich sah nur den Kinderwagen.) Sie mochten sich nicht aufhalten, und ich konnte es ihnen nicht verdenken. Ich wollte weg – das hier war meine Vergangenheit. Ich wollte nach Hause.
    Sie blieben nicht stehen. Es war nicht weit, aber sie mussten an Autowracks und geschundenen Menschen vorbei. Ich war einer der ersten, die aus dem Rauch auftauchten. Ein harmloser alter Mann, der ein Bein verloren hatte.
    – Es war schon ab, sagte ich zu dem Fotografen, der sich neben mich gekniet hatte. – Kein Blut zu sehen, schauen Sie ruhig hin.
    Er hörte mich nicht. Er sah mich nicht mal an. Aber ich wusste, dass ich etwas gesagt hatte, ich hörte mich sprechen. Möglich, dass wir in der Amiens Street waren, aber ob das stimmte, habe ich nie erfahren, erst Jahre später bin ich da mal wieder hingekommen.
    – Wie heißt er? hörte ich den Fotografen fragen.
    Jetzt sah er mich an.
    – Wie ist Ihr Name?
    – Henry Smart, sagte ich.
    Das hatte er gehört.
    Ich lag stundenlang nur da. Es gab keine Explosionen mehr, der Boden schwankte nicht. Ich lag neben anderen Tragen. Ich sprach mit niemandem und hatte aufgehört zu lauschen.
    Es war ein herrlicher Tag gewesen, daran erinnere ich mich bis heute, und an die Straße und die Frauen, die ihre Jacken ausgezogen hatten, ehe alles verschwand. Mittlerweile war es Nacht. Scheinwerfer, Fackeln, Blitzlichter machten sie hell.
    Sie hoben mich hoch.
    – Alles in Ordnung, sagte eine Stimme hinter meinem Kopf. – Wir bringen Sie jetzt ins Krankenhaus.
    – Mein Bein, sagte ich.
    – Dem ist nicht viel passiert, sagte der Mann hinten an der Trage. – Sie haben es schön sauber gemacht.
    – Es liegt noch in der Talbot Street, sagte ich.
    – Was meinen Sie, was da alles liegt, sagte er. – Unglaublich. Über dreißig Tote. Drei Bomben hier und eine in Monaghan.
    – Wer war’s? fragte ich.
    Sein Gesicht kam jetzt näher, weil er und sein Kumpel vorn die Trage in einen Krankenwagen hoben.
    – Die UVF, sagte er. – Angeblich.
    – Und wer ist das? fragte ich.
    Ich hatte mich nicht um die Unruhen gekümmert, hatte in meiner eigenen zufriedenen Republik gelebt.
    – Die UVF?
    – Ja.
    – Irgendwas mit Ulster, sagte er.
    – Ulster Volunteer Force, sagte der andere.
    Er schnallte mich an eine Plastikmatratze.
    – Unionisten, fragte ich.
    – Na klar. Unsere eigenen Leute würden so was nicht machen.
    – Jedenfalls nicht hier, sagte der andere.
    – Mein Bein, verlangte ich.
    – Seien Sie tapfer.
    – Mein Bein, verdammt noch mal.
    Ich trug immer meine guten Stiefel, wenn ich mit dem Bus in die Stadt fuhr. (Später fiel mir ein: Die Busse hatten gestreikt, ich war in der Talbot Street gewesen, weil ich mit dem Zug heimfahren

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