Die Rueckkehr des Henry Smart
holen. Ich glaube, ich bin dein Vater.
– Großer Gott.
– Kannst du wohl laut sagen.
Eine halbe Ewigkeit stand sie da, ohne mich richtig anzusehen.
– Du hast dir Zeit gelassen, sagte ich.
– Wie bitte?
– Du hast dir Zeit gelassen, hab ich gesagt.
– Ich hab’s nicht gewusst, sagte sie schließlich.
– Du hast angerufen. 1964, nicht? Danach nicht mehr.
Sie betrat das Zimmer.
– Und was ist mit dir? Meinem Vater?
Ihre Mutter lag tot auf dem Bett, vielleicht hörte sie zu. Das Auge war offen – aber die Ohren? Ich glaubte, dass sie hören konnte, weil ich es wollte, so wie ich glaubte, dass sie mich sehen konnte, wenn ich mein Gesicht über sie beugte. Aber sie hatte nicht meine Hand gedrückt, wenn ich ihre hielt, nicht mal ganz leicht. Und sie hatte nie geblinzelt, wenn ich sie darum gebeten hatte – einmal für Ja, zweimal für Nein.
– Ja, da sind wir nun, sagte die Tochter.
Sie stand neben mir. Auch sie guckte, ob ihre Mutter zuhörte, ob das Auge etwas anstellte. Es war offen, aber das war alles.
Ich hatte keine Vorstellung davon, wer diese Frau war, ich wusste nur, wer sie gewesen war. Sie guckte mich an wie etwas, in das sie aus Versehen reingetreten war.
– Muss ein bisschen komisch sein, sagte ich.
– Was?
In dem Akzent schwangen lange amerikanische Jahre, aber die Frage selbst war irisch.
– Zu erfahren, dass du einen Vater hast.
Sie antwortete nicht. Sie sah auf ihre Mutter, versuchte aber nicht, näher ranzugehen, mich wegzudrängen. Sie hatte eine Herrenuhr am Handgelenk und sah immer wieder drauf.
– Wo ist Ivan? fragte ich.
– Onkel Ivan?
– Er ist nicht dein Onkel, sagte ich und kam mir blöd vor.
– Er war mehr ein Onkel, als du ein Vater warst, sagte sie.
Wenn das ein Krieg war, hatte sie ihn schon gewonnen. Ich sah zu ihrer Mutter hin. Aber von dem Auge kriegte ich keine Unterstützung.
– So hast du es in Erinnerung.
– So war es.
– Du hast gesehen, wie ich unter den Zug gefallen bin, gottverdammmich.
– Aber ich hab nicht gesehen, wie du darunter vorgekrochen bist. Muss aber wohl so gewesen sein.
– Du weißt, was passiert ist.
– Eben nicht. Bis vor einer Minute warst du tot. Und vergessen.
– Ich wusste nicht ...
– Die Welt ist klein, Mister Smart. Da braucht man nach niemandem mehr lange zu suchen.
Sie sorgte dafür, dass ich sie nicht würde leiden können. Ich hätte ihr am liebsten den Hals umgedreht.
Mister Smart.
Hatte sie die guten Jahre wirklich vergessen? Ich war zu alt, um sie noch mal zu überprüfen, ich brauchte jene Jahre so, wie sie waren, handfest und ganz mein.
– Wo ist er? fragte ich noch mal. – Warum ist er nicht hier?
– Ist er doch, sagte sie.
– Draußen?
Sie forderte mich nicht auf, ihr zu folgen, aber ich wusste, dass es so gemeint war. Sie war noch auf dem Gang, als ich es bis zur Tür geschafft hatte. Dann betrat sie das Nachbarzimmer.
Er lag mit offenen Augen auf dem Bett – im Bett. Hellwach und im Sterben. Ich hatte vergessen, dass ich zwar Ivan zum Anführer ausgebildet hatte, dass er aber älter gewesen war als ich.
Er lächelte, ehe er mich sah, ehe er merkte, dass noch jemand im Zimmer war. Das Lächeln galt meiner Tochter, es kostete ihn seine ganze Kraft, und er schenkte es ihr mit Freuden. Ich beneidete ihn, aber ich konnte ihn nicht hassen. Der Mistkerl liebte sie, das war eindeutig und ein Schock. Er liebte das Kind, das sie gewesen war, und es störte ihn nicht, dass sie kein Kind mehr war. Er hatte sie aufwachsen sehen.
Darauf hatte ich seit Jahren gewartet. Auf die Konfrontation. Auge in Auge mit Ivan. Jetzt aber wäre ich am liebsten aus dem Zimmer gelaufen.
Er sah mich und erkannte mich. Das Erschrecken, das über das graue Gesicht von Ivan dem Schrecklichen schwappte, freute mich nicht – aber die Art, wie er es wegsteckte, imponierte mir. Er war immer noch auf seinen Vorteil aus. Es dauerte weniger als eine Sekunde. Dann konnte er mir direkt ins Gesicht sehen.
– Hauptmann, sagte er.
– Lange nicht gesehen.
Er versteckte sich hinter einem Todesröcheln. Sie stand neben ihm.
– Ivan, sagte ich.
Wieder das Röcheln und ein Husten. Um ihn zu töten, war ich zu spät gekommen.
– Ein Leben lang, sagte ich.
– Genau. Mehr als das eine Leben. Siehst gut aus, Hauptmann. Noch immer ein ansehnlicher Kerl.
– Red keinen Scheiß, Ivan.
– Du bist gekommen, um zuzusehen, wie ich den Löffel abgebe.
– Nein, sagte ich.
– Nein?
– Wollte nur mal guten Tag
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