Die Rückkehr des Sherlock Holmes
edel, selbstlos und treu – alles, was mein Mann nicht war. Er haßte die Gewalt. Wir alle waren schuldig – wenn man das Schuld nennen kann –, er aber nicht. Immer wieder hatte er mir geschrieben, um mich von meinem Tun abzubringen. Diese Briefe hätten ihn gerettet, wie auch mein Tagebuch, in dem ich Tag für Tag meine Gefühle für ihn und unsere Ansichten eingetragen hatte. Mein Mann hat sowohl das Tagebuch als auch die Briefe gefunden und an sich genommen. Er hat sie versteckt und sich sehr bemüht, das Leben des jungen Mannes wegzuschwören. Dies ist ihm nicht gelungen, doch wurde Alexis als Sträfling nach Sibirien geschickt, wo er jetzt, in diesem Augenblick, in einem Salzbergwerk arbeitet. Denk dran, du Schurke, du Schurke: Jetzt, jetzt, in diesem Augenblick schuftet und lebt Alexis, ein Mann, dessen Namen auszusprechen du nicht wert bist, wie ein Sklave, und ich habe dein Leben in der Hand, und doch lasse ich dich gehen!«
»Du warst schon immer eine edle Frau, Anna«, sagte der alte Mann und paffte an seiner Zigarette.
Sie war aufgestanden, fiel aber wieder mit einem unterdrückten Schmerzensschrei zurück.
»Ich muß zum Ende kommen«, sagte sie. »Nachdem ich meine Strafe abgesessen hatte, begab ich mich daran, das Tagebuch und die Briefe wiederzuerlangen, die, wenn ich sie der russischen Regierung schickte, die Freilassung meines Freundes bewirken würden. Daß mein Mann nach England gegangen war, wußte ich. Nach monatelanger Suche fand ich heraus, wo er steckte. Ich wußte, daß er das Tagebuch noch hatte, denn als ich in Sibirien war, hatte ich einmal einen Brief von ihm bekommen, in dem er mir Vorwürfe machte und einige Abschnitte daraus zitierte. Doch war mir klar, daß er es mir bei seiner Rachsüchtigkeit niemals freiwillig geben würde. Ich mußte es mir selbst beschaffen. Zu diesem Zweck engagierte ich bei einer privaten Detektivfirma einen Agenten, der als Sekretär in das Haus meines Mannes ging – das war dein zweiter Sekretär, Sergius, der, der dich so eilig wieder verlassen hat. Er fand heraus, daß diese Papiere in dem Schrank aufbewahrt wurden, und fertigte einen Abdruck des Schlüssels an. Weiter ist er nicht gegangen. Er versah mich mit einem Plan des Hauses und sagte mir, daß das Arbeitszimmer vormittags immer leer sei, da der Sekretär dann hier oben beschäftigt sei. Also nahm ich endlich mein Herz in beide Hände und kam hierher, um mir die Papiere zu holen. Das ist mir auch gelungen, aber um welchen Preis!
Ich hatte die Papiere gerade genommen und schloß den Schrank wieder zu, als dieser junge Mann mich packte. Ich hatte ihn bereits am Morgen gesehen. Er war mir auf der Straße begegnet, und ich hatte ihn nach dem Haus Professor Corams gefragt, ohne zu wissen, daß er bei ihm beschäftigt war.«
»Genau! Genau!« sagte Holmes. »Der Sekretär kam zurück und erzählte seinem Arbeitgeber von der Frau, die er getroffen hatte. Und mit seinem letzten Atemzug versuchte er dann die Botschaft zu übermitteln, daß sie es war – jene sie, über die er eben noch mit ihm gesprochen hatte.«
»Sie müssen mich sprechen lassen«, sagte die Frau mit gebieterischer Stimme, und ihr Gesicht zog sich wie im Schmerz zusammen. »Nachdem er zusammengebrochen war, stürzte ich aus dem Zimmer, ging durch die falsche Tür und fand mich im Zimmer meines Mannes. Er sagte, er würde mich ausliefern. Ich machte ihm klar, wenn er das täte, würde sein Leben von mir abhängen. Wenn er mich dem Gesetz auslieferte, konnte ich ihn der Bruderschaft ausliefern. Ich wollte nicht um meinetwillen lügen, sondern ich wollte mein Ziel erreichen. Er wußte, daß ich tun würde, was ich gesagt hatte – daß sein Schicksal mit dem meinen verbunden war. Aus diesem und keinem anderen Grunde hat er mich geschützt. Er steckte mich in dieses finstere Versteck, ein Überbleibsel alter Zeiten, das nur ihm allein bekannt war. Da er die Mahlzeiten auf seinem Zimmer einnahm, konnte er mir einen Teil davon abgeben. Wir hatten abgemacht, daß ich, wenn die Polizei das Haus verlassen hätte, mich in der Nacht wegschleichen und nie mehr wiederkommen sollte. Irgendwie sind Sie aber hinter unsere Pläne gekommen.« Sie zog ein kleines Paket aus ihrem Ausschnitt. »Dies sind meine letzten Worte«, sagte sie; »hier ist das Paket, das Alexis retten wird. Ich überantworte es Ihrem Ehrgefühl und Ihrer Liebe zur Gerechtigkeit. Nehmen Sie es! Sie werden es der russischen Botschaft übergeben. Nun habe ich meine Pflicht
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