Die Rückkehr des Sherlock Holmes
erfüllt, und –«
»Haltet sie auf!« schrie Holmes. Er war durch das Zimmer gesprungen und hatte ihr ein kleines Fläschchen aus der Hand gewunden.
»Zu spät!« sagte sie und sank auf das Bett zurück. »Zu spät! Ich habe das Gift schon genommen, bevor ich aus meinem Versteck gekommen bin. Mein Kopf schwimmt! Ich sterbe! Ich befehle Ihnen, Sir, denken Sie an das Paket.«
»Ein einfacher Fall, und doch in mancher Hinsicht lehrreich«, bemerkte Holmes, als wir zur Stadt zurückfuhren. »Er drehte sich von Anfang an um den Kneifer. Doch dürften wir wohl kaum zu unserer Lösung gelangt sein, wenn der Sterbende ihn nicht glücklicherweise an sich gerissen hätte. Die Stärke der Brillengläser brachte mich zu der Überzeugung, daß ihre Trägerin ohne sie so gut wie blind und ziemlich hilflos sein mußte. Als Sie von mir verlangten, ich sollte glauben, daß sie ohne ein einziges Mal danebenzutreten über einen schmalen Grasstreifen gegangen sei, bemerkte ich, wie Sie sich erinnern werden, daß dies eine beachtliche Leistung sei. Ich selbst hielt diese Leistung für unmöglich, von dem unwahrscheinlichen Fall abgesehen, daß sie eine zweite Brille besaß. Ich war daher gezwungen, ernstlich die Hypothese zu erwägen, daß sie im Haus geblieben war. Als mir die Ähnlichkeit der beiden Flure auffiel, wurde mir klar, daß sie diese durchaus hätte verwechseln können, und in diesem Fall lag es auf der Hand, daß sie das Zimmer des Professors betreten haben mußte. Ich achtete daher genau auf alles, was diese Annahme bestätigen könnte, und untersuchte das Zimmer sorgfältigst darauf, ob es irgendein Versteck bieten konnte. Der Teppich war nirgends unterbrochen und schien fest angenagelt, weshalb ich von der Vorstellung einer Falltür abließ. Hinter den Büchern mochte sich durchaus eine Nische befinden. Ihnen ist ja bekannt, daß solche Vorrichtungen in alten Bibliotheken nichts Ungewöhnliches sind. Mir fiel auf, daß überall auf dem Boden Bücher gestapelt waren, nur vor einem Regal nicht. Dies konnte also eine Tür sein. Spuren, die mich hätten leiten können, fand ich keine, doch war der Teppich von dunkler Farbe, was sich sehr gut zu einem Test eignet. Ich rauchte daher eine große Anzahl jener ausgezeichneten Zigaretten und ließ die Asche auf den ganzen Raum vor dem verdächtigen Regal fallen. Ein simpler, aber außerordentlich wirkungsvoller Trick. Darauf ging ich nach unten und bekam in Ihrer Anwesenheit, Watson, heraus, ohne daß Sie die Tendenz meiner Bemerkungen so recht wahrnahmen, daß Professor Corams Nahrungskonsum zugenommen hatte – wie man erwarten konnte, wenn er noch jemand anderen zu versorgen hatte. Als wir dann wieder aufsein Zimmer gegangen waren, stieß ich die Zigarettendose um, bekam dadurch den Fußboden ganz ausgezeichnet zu Gesicht und vermochte an den Spuren auf der Zigarettenasche eindeutig zu erkennen, daß die Eingesperrte in unserer Abwesenheit aus ihrem Versteck gekommen war. Nun, Hopkins, hier haben wir Charing Cross, und ich gratuliere Ihnen zum erfolgreichen Abschluß Ihres Falles. Sie gehen jetzt zweifellos in Ihr Hauptquartier. Watson, ich denke, Sie und ich werden zusammen zur russischen Botschaft fahren.«
Der verschollene Three-Quarter 30
Wir waren an merkwürdigen Telegrammen ja schon einiges gewöhnt in der Baker Street, doch erinnere ich mich an eines ganz besonders, welches uns vor sieben oder acht Jahren an einem düsteren Februarmorgen erreichte und Mr. Sherlock Holmes eine verwirrte Viertelstunde bescherte. Es war an ihn adressiert und lautete wie folgt:
Bitte erwarten Sie mich. Furchtbares Unglück. Rechter Flügel-Three-Quarter verschollen. Morgen unentbehrlich. Overton
»Poststempel vom Strand, eingeliefert zehn Uhr sechsunddreißig«, sagte Holmes, indem er’s eins ums andere Mal überlas. »Mr. Overton war offenbar recht aufgeregt, als er dies abschickte, und folglich ein wenig verworren. Nun, nun, ich möchte meinen, er wird hier sein, wenn ich die
Times
durchgesehen habe, und dann werden wir alles erfahren. In diesen trägen Zeiten wäre mir auch das belangloseste Problem willkommen.«
Wir hatten in der Tat flaue Zeiten hinter uns, und ich hatte solche Perioden des Nichtstuns fürchten gelernt, da das Gehirn meines Gefährten, wie ich aus Erfahrung wußte, so überaus nach Betätigung verlangte, daß es immer gefährlich war, wenn er unbeschäftigt war. Über die Jahre hatte ich ihn allmählich von seiner Drogensucht, die dereinst seine
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