Die Rückkehr des Sherlock Holmes
ist dort«, sagte Holmes und zeigte auf einen hohen Bücherschrank in einer Ecke des Zimmers.
Ich sah den alten Mann die Arme hochwerfen; ein schrecklicher Krampf verzog sein grimmiges Gesicht, dann fiel er in seinen Sessel zurück. Gleichzeitig schwang der Bücherschrank, auf den Holmes zeigte, um ein Scharnier, und eine Frau stürzte in das Zimmer.
»Sie haben recht!« rief sie mit seltsam fremdländischer Stimme. »Sie haben recht! Ich bin hier.«
Sie war braun von Staub und mit Spinnweben behängt, die von den Wänden ihres Verstecks stammten. Auch ihr, Gesicht war schmutzverschmiert, und im günstigsten Falle konnte sie nie hübsch gewesen sein, denn sie wies genau jene Merkmale auf, die Holmes erahnt hatte, und dazu noch ein langes, störrisches Kinn. Teils wegen ihrer angeborenen Kurzsichtigkeit, teils wegen des Wechsels vom Dunkeln ins Licht stand sie da wie betäubt und blinzelte umher, um zu sehen, wo und wer wir waren. Und doch, trotz allen diesen Nachteilen, hatte die Haltung dieser Frau etwas Vornehmes, das trotzige Kinn und der erhobene Kopf etwas Elegantes an sich, das uns so etwas wie Respekt und Bewunderung abnötigte. Stanley Hopkins hatte eine Hand auf ihren Arm gelegt und beanspruchte sie als seine Gefangene, doch sie winkte ihn sanft, und doch mit einer bezwingenden Würde, die Gehorsam heischte, beiseite. Der alte Mann lag in seinem Sessel, sein Gesicht zuckte, und er starrte sie mit bohrenden Blicken an.
»Ja, Sir, ich bin Ihre Gefangene«, sagte sie. »Ich konnte alles mitanhören, wo ich stand, und ich weiß, daß Sie die Wahrheit herausgefunden haben. Ich gestehe alles. Ich habe den jungen Mann getötet. Aber Sie hatten recht, wie Sie gesagt haben, daß es ein Unfall war. Ich wußte noch nicht einmal, daß es ein Messer war, was ich in der Hand hielt: ich habe in meiner Verzweiflung irgendwas vom Tisch geschnappt und damit nach ihm geschlagen, damit er mich losläßt. Ich sage die Wahrheit.«
»Madame«, sagte Holmes, »ich bin davon überzeugt, daß dies die Wahrheit ist. Ich fürchte, es geht Ihnen gar nicht gut.«
Sie hatte eine entsetzliche Farbe angenommen, die unter den dunklen Schmutzstriemen auf ihrem Gesicht nur um so gespenstischer wirkte. Sie setzte sich auf die Bettkante; dann fuhr sie fort.
»Ich habe nur noch wenig Zeit«, sagte sie, »aber ich möchte, daß Sie die ganze Wahrheit erfahren. Ich bin die Frau dieses Mannes. Er ist kein Engländer, sondern Russe. Seinen Namen sage ich nicht.«
Zum erstenmal regte sich der Alte. »Gott segne dich, Anna!« rief er. »Gott segne dich!«
Sie warf einen Blick tiefster Verachtung in seine Richtung, »Warum klammerst du dich so sehr an dein jämmerliches Leben, Sergius?« sagte sie. »Es hat so vielen Böses und niemandem Gutes getan – nicht einmal dir selbst. Jedoch ist es nicht meine Sache, den dünnen Faden vor der von Gott bestimmten Zeit abschneiden zu helfen. Ich habe mir schon genug aufs Herz geladen, seit ich die Schwelle dieses verfluchten Hauses überschritten habe. Doch ich muß sprechen, sonst wird es zu spät.
Ich sagte bereits, Gentlemen, daß ich die Frau dieses Mannes bin. Als wir heirateten, war er fünfzig und ich ein törichtes Mädchen von zwanzig. Es war in einer russischen Universitätsstadt – den Namen werde ich nicht nennen.«
»Gott segne dich, Anna!« murmelte wieder der Alte.
»Wir waren Reformisten – Revolutionäre – Nihilisten, Sie verstehen schon. Er und ich und viele andere. Dann kam eine Zeit der Not 29 , ein Polizeioffizier wurde getötet, viele wurden verhaftet, man brauchte Beweise, und um sein eigenes Leben zu retten und eine große Belohnung einzustreichen, verriet mein Mann seine Frau und seine Gefährten. Ja; aufgrund seines Geständnisses wurden wir alle verhaftet. Einige von uns landeten am Galgen, einige in Sibirien. Ich war unter den letzteren, hatte aber keine lebenslängliche Strafe erhalten. Mein Mann begab sich mit seinem Sündengeld nach England und führt seither ein ruhiges Leben; dabei weiß er recht gut, daß, wenn die Bruderschaft wüßte, wo er sich aufhält, keine Woche vergehen würde, bis die Gerechtigkeit wiederhergestellt würde.«
Der alte Mann streckte zitternd eine Hand aus und nahm sich eine Zigarette. »Ich bin in deiner Hand, Anna«, sagte er. »Du warst immer gut zu mir.«
»Den Gipfel seiner Niedertracht habe ich Ihnen noch nicht erzählt!« sagte sie. »Unter den Genossen unseres Ordens war einer, mit dem ich ein Herz und eine Seele war. Er war
Weitere Kostenlose Bücher