Die Rückkehr des Sherlock Holmes
mir aber diejenige zu sein, die am ehesten das Interesse dieses überaus unangenehmen Alten wecken könnte.«
»Das hat sie bestimmt getan. Aber welche Alternativen haben Sie?«
»Ich könnte mehrere nennen. Sie müssen zugeben, es ist schon seltsam und vieldeutig, daß sich dieser Zwischenfall am Vorabend dieses wichtigen Spiels ereignet und daß er ausgerechnet den einen Mann betrifft, dessen Anwesenheit für den Erfolg seiner Mannschaft wesentlich zu sein scheint. Es kann natürlich Zufall sein, aber es ist interessant Im Amateursport darf ja nicht gewettet werden, doch werden im Publikum eine ganze Menge inoffizielle Wetten abgeschlossen, und es ist möglich, daß es sich für jemanden lohnen könnte, einen Spieler zu entführen, so wie die Schurken vom Turf ein Rennpferd entführen. Dies ist eine Erklärungsmöglichkeit. Eine zweite, sehr einleuchtende ist die, daß dieser junge Mann tatsächlich der Erbe eines beträchtlichen Vermögens ist, wie bescheiden seine Mittel zur Zeit auch sein mögen, und es ist nicht auszuschließen, daß er zur Erpressung eines Lösegeldes festgehalten wird.«
»Diese Theorien lassen das Telegramm außer acht.«
»Sehr richtig, Watson. Das Telegramm bleibt noch immer das einzig Solide, auf dem wir aufbauen können, und wir dürfen unsere Aufmerksamkeit nicht davon abschweifen lassen. Um hinter den Zweck dieses Telegramms zu kommen, sind wir jetzt auf dem Weg nach Cambridge. Der Weg unserer Ermittlungen liegt zur Zeit noch im dunkeln, doch sollte es mich sehr überraschen, wenn wir ihn bis zum Abend nicht erhellt haben oder ein gutes Stück darauf vorangekommen sind.«
Es war bereits dunkel, als wir in der alten Universitätsstadt eintrafen. Am Bahnhof nahm Holmes einen Wagen und hieß den Kutscher, zum Haus von Dr. Leslie Armstrong zu fahren. Wenige Minuten später hielten wir vor einem großen Wohnhaus in der geschäftigsten Verkehrsstraße an. Wir wurden hineingeleitet, und nach langem Warten ließ man uns ins Sprechzimmer treten, wo wir den Arzt hinter seinem Tisch antrafen.
Es kündet von dem Ausmaß, in dem ich den Kontakt zu meinem Beruf verloren hatte, daß mir der Name Leslie Armstrong unbekannt war. Jetzt weiß ich, daß er nicht nur einer der führenden Köpfe der medizinischen Fakultät der Universität ist, sondern auch in mehr als einem Zweig der Wissenschaft ein Denker von europäischer Reputation. Doch auch, wenn man von seinem glänzenden Ruf nichts wußte, mußte einen schon ein flüchtiger Blick auf diesen Mann beeindrucken – das eckige, wuchtige Gesicht, die brütenden Augen unter dem Strohdach der Brauen, die granitne Gußform seines unbeugsamen Kinns. Ein Mann von hintergründigem Charakter, ein Mann mit wachsamem Geist, finster, asketisch, selbstbeherrscht, gewaltig – so wirkte Dr. Leslie Armstrong auf mich. Er hielt die Karte meines Freundes in der Hand, und als er aufsah, lag kein sonderlich erfreuter Ausdruck auf seinen mürrischen Zügen.
»Ihr Name ist mir bekannt, Mr. Sherlock Holmes, ebenso wie Ihr Beruf, ein Beruf, der durchaus nicht meinen Beifall findet.«
»Darin, Doktor, wird Ihnen jeder Kriminelle in diesem Lande zustimmen«, sagte mein Freund gelassen.
»Soweit Ihre Bemühungen sich auf die Unterdrückung von Verbrechen erstrecken, Sir, müssen sie von jedem vernünftigen Glied der Gemeinschaft unterstützt werden, wenn ich auch nicht daran zweifeln kann, daß die offizielle Maschinerie diesen Zweck hinreichend erfüllt. Anfälliger für Kritik ist Ihr Gewerbe dort, wo Sie sich in die privaten Geheimnisse der Individuen einmischen, wo Sie Familienangelegenheiten, die besser im verborgenen blieben, aufwühlen, und wo Sie nebenher Menschen die Zeit stehlen, die mehr zu tun haben als Sie. In diesem Augenblick zum Beispiel sollte ich eher eine Abhandlung schreiben als mich mit Ihnen unterhalten.«
»Zweifellos, Doktor; und doch könnte sich diese Unterhaltung als wichtiger als Ihre Abhandlung erweisen. Übrigens darf ich Ihnen sagen, daß wir das Gegenteil dessen tun, was Sie sehr zu Recht tadeln, indem wir uns nämlich bemühen, jegliche öffentliche Zurschaustellung von Privatangelegenheiten zu verhindern, die notwendig folgen muß, wenn der Fall erst einmal der Polizei in die Hände gerät. Betrachten Sie mich einfach als einen irregulären Pionier, der der regulären Armee des Landes vorausgeht. Ich bin hier, um Sie wegen Mr. Godfrey Staunton zu befragen.«
»Was ist mit ihm?«
»Sie kennen Ihn doch wohl?«
»Er ist eng mit mir
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