Die Rückkehr des Sherlock Holmes
nimmt uns die Entscheidung ab. Wir müssen unbedingt sehen, was das zu bedeuten hat, ehe er hier ist.«
Er machte die Tür auf, und wir traten in den Vorraum. Das Stöhnen schwoll stärker an, bis es zu einem einzigen langgezogenen, tiefen gequälten Heulen wurde. Es kam von oben. Holmes jagte die Treppe hoch, und ich ihm nach. Er stieß eine angelehnte Tür auf, und wir beide blieben entsetzt vor dem Anblick stehen, der sich uns bot.
Eine junge und schöne Frau lag tot auf dem Bett. Ihr ruhiges, bleiches Antlitz mit den matten, weit offenen blauen Augen schwamm im Gewirr ihres goldnen Haars. Am Fuß des Bettes, halb sitzend, halb kniend, das Gesicht in den Laken vergraben, hockte ein junger Mann, dessen Körper von heftigem Schluchzen erschüttert wurde. Er war so sehr in seinen bitteren Schmerz vertieft, daß er erst aufsah, als Holmes’ Hand auf seiner Schulter lag.
»Sind Sie Mr. Godfrey Staunton?«
»Ja, ja; der bin ich – aber Sie kommen zu spät. Sie ist tot.«
Der Mann war so verwirrt, daß ihm nicht begreiflich gemacht werden konnte, daß wir nicht Ärzte waren, die man ihm zu Hilfe geschickt hatte. Holmes bemühte sich, einige Trostworte hervorzubringen und die Aufregung zu erklären, die sein plötzliches Verschwinden bei seinen Freunden verursacht hatte, als auf der Treppe Schritte ertönten und das wuchtige, strenge und fragende Gesicht Dr. Armstrongs in der Tür erschien.
»So, Gentlemen«, sagte er, »Sie sind an Ihr Ziel gelangt, und Sie haben wahrhaftig einen besonders delikaten Zeitpunkt für Ihr Eindringen gewählt. Ich will im Angesicht des Todes nicht streiten, aber ich kann Ihnen versichern, daß Ihr ungeheuerliches Benehmen nicht ungestraft durchgehen würde, wenn ich ein wenig jünger wäre.«
»Verzeihen Sie, Dr. Armstrong, ich denke, wir mißverstehen uns gegenseitig«, sagte mein Freund würdevoll. »Wenn Sie uns nach unten folgen wollen, dürften wir in der Lage sein, einander über diese betrübliche Angelegenheit aufzuklären.«
Eine Minute darauf saßen der grimmige Doktor und wir unten im Wohnzimmer.
»Nun, Sir?« fragte er.
»Zunächst einmal möchte ich Ihnen klarmachen, daß ich nicht für Lord Mount-James arbeite und daß meine Sympathien in dieser Sache ganz und gar nicht auf Seiten jenes Adligen sind. Wenn ein Mann verschwindet, ist es meine Pflicht, sein Schicksal zu ermitteln, doch wenn ich das getan habe, ist die Angelegenheit für mich beendet; und solange nichts Kriminelles mit im Spiel ist, liegt mir viel mehr daran, private Skandale zu vermeiden als ihnen zu Publizität zu verhelfen. Wenn, wie ich mir einbilde, in diesem Fall hier kein Gesetzesbruch vorliegt, können Sie sich auf meine Diskretion und meine Mithilfe dabei, die Tatsachen nicht in die Zeitungen gelangen zu lassen, vollkommen verlassen!«
Dr. Armstrong trat rasch vor und drückte Holmes die Hand.
»Sie sind ein guter Mann«, sagte er. »Ich hatte Sie falsch eingeschätzt. Ich danke dem Himmel dafür, daß meine Gewissensbisse, den armen Staunton in seinem schlimmen Zustand ganz allein gelassen zu haben, mich dazu veranlaßt haben, meinen Wagen zu wenden und so Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Wenn man schon soviel weiß wie Sie, ist die Situation sehr leicht zu erklären. Vor einem Jahr wohnte Godfrey Staunton eine Zeitlang in London, wo er sich leidenschaftlich in die Tochter seiner Hauswirtin verliebte, die er auch heiratete. Sie war so gut, wie sie schön war, und so intelligent wie gut. Kein Mann braucht sich wegen einer solchen Frau zu schämen. Aber Godfrey war der Erbe dieses griesgrämigen alten Adligen, und es stand ziemlich fest, daß die Nachricht von seiner Verehelichung das Ende seiner Erbschaft bedeutet hätte. Ich kannte den Jungen gut, und ich mochte ihn wegen seiner vielen ausgezeichneten Eigenschaften. Ich tat, was ich konnte, um ihm zu helfen, die Dinge in Ordnung zu halten. Wir taten unser Allerbestes, die Sache vor jedermann geheimzuhalten, denn wenn ein solches Gerücht erst einmal in Umlauf kommt, weiß es binnen kurzem jeder. Dank dieses einsamen Häuschens und seiner Verschwiegenheit hatte Godfrey bis jetzt Erfolg. Ihr Geheimnis war niemandem bekannt als mir und einem ausgezeichneten Diener, der augenblicklich in Trumpington ist, um Hilfe zu holen. Schließlich aber schlug das Schicksal furchtbar zu, und seine Frau wurde gefährlich krank. Es war Schwindsucht der bösartigsten Sorte. Der arme Junge war halb wahnsinnig vor Kummer, und doch mußte er nach London fahren,
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