Die Rückkehr des Sherlock Holmes
war von solcher Bedeutung, daß ich ihn abends nie in meinem Safe gelassen, sondern immer mit in mein Haus in Whitehall Terrace genommen und dort in meinem Schlafzimmer in einer verschlossenen Depeschenbox verwahrt habe. Dort war er auch letzte Nacht. Dessen bin ich mir sicher. Als ich mich zum Abendessen umzog, habe ich die Box ja noch aufgemacht und das Dokument darin gesehen. Heute morgen war es weg. Die Depeschenbox hatte die ganze Nacht über neben dem Spiegel auf meinem Toilettentisch gestanden. Ich habe einen leichten Schlaf, wie auch meine Frau. Wir können beide beschwören, daß im Lauf der Nacht niemand das Zimmer betreten haben kann. Und doch wiederhole ich: Das Papier ist weg.«
»Zu welcher Zeit haben Sie gespeist?«
»Um halb acht.«
»Und wann sind Sie zu Bett gegangen?«
»Meine Frau war im Theater. Ich bin aufgeblieben, bis sie kam. Es war halb zwölf, als wir in unser Zimmer gingen.«
»Demnach war die Depeschenbox vier Stunden lang unbewacht?«
»Niemand hat je Zutritt zu diesem Zimmer, außer am Morgen das Hausmädchen und tagsüber mein Kammerdiener oder das Dienstmädchen meiner Frau. Die beiden sind vertrauenswürdige Dienstboten, die schon seit einiger Zeit für uns arbeiten. Außerdem konnten sie unmöglich gewußt haben, daß in meiner Depeschenbox irgend etwas Wertvolleres als die üblichen ministeriellen Unterlagen waren.«
»Wer hat vom Vorhandensein dieses Briefes gewußt?«
»Im Haus niemand.«
»Aber doch sicher Ihre Frau?«
»Nein, Sir; ich habe meiner Frau erst etwas davon gesagt, als ich das Papier heute morgen vermißt habe.«
Der Premier nickte zustimmend.
»Ich weiß seit langem, Sir, wie hoch Sie Ihren Dienst am Staat einschätzen«, sagte er. »Und ich bin davon überzeugt, daß Sie ihn im Falle eines Geheimnisses von derartiger Bedeutung über die vertraulichsten Familienbande stellen würden.«
Der Europa-Minister verbeugte sich.
»Sie lassen mir nur Gerechtigkeit widerfahren, Sir. Bis heute morgen habe ich meiner Frau gegenüber nicht ein Wort von dieser Angelegenheit erwähnt.«
»Hätte sie es erahnen können?«
»Nein, Mr. Holmes, weder sie noch sonst jemand hätte etwas davon ahnen können.«
»Haben Sie schon früher einmal irgendwelche Dokumente verloren?«
»Nein, Sir.«
»Wer in England hat von der Existenz dieses Briefes gewußt?«
»Sämtliche Mitglieder des Kabinetts sind gestern darüber informiert worden; aber die Verpflichtung zur Geheimhaltung, die ohnehin jeder Kabinettssitzung folgt, wurde diesmal noch von einer feierlichen Ermahnung des Premierministers besonders hervorgehoben. Gütiger Himmel, was für eine Vorstellung, daß er mir wenige Stunden darauf abhanden gekommen ist!« Sein ansehnliches Gesicht verzerrte sich in einem verzweifelten Krampf, und er raufte sich die Haare. Für einen Augenblick sahen wir den Mann, wie er wirklich war – impulsiv, hitzig und überaus sensibel. Gleich darauf hatte er wieder seine aristokratische Maske aufgesetzt und seinen sanften Tonfall wiedererlangt. »Neben den Kabinettsmitgliedern gibt es noch zwei, vielleicht auch drei Ministerialbeamte, die von dem Brief wissen. Sonst niemand in England, Mr. Holmes, das versichere ich Ihnen.«
»Aber im Ausland?«
»Ich glaube, im Ausland hat ihn nur derjenige gesehen, der ihn geschrieben hat. Ich bin durchaus davon überzeugt, daß seine Minister – daß die üblichen offiziellen Kanäle nicht in Anspruch genommen worden sind.«
Holmes dachte eine Weile nach.
»Nun, Sir, muß ich Sie bitten, mir genauere Auskunft über das Wesen dieses Dokumentes zu geben, und warum sein Verschwinden derart folgenschwere Konsequenzen haben sollte.«
Die beiden Staatsmänner tauschten einen schnellen Blick aus, und die struppigen Augenbrauen des Premiers zogen sich unwillig zusammen.
»Mr. Holmes, es handelt sich um einen langen, dünnen, blaßblauen Umschlag. Er ist mit rotem Wachs versiegelt, in das ein hockender Löwe geprägt ist. Die Adresse ist mit großer kraftvoller Handschrift –«
»Ich fürchte«, sagte Holmes, »daß meine Ermittlungen, so interessant und durchaus wesentlich diese Einzelheiten sein mögen, an den Wurzeln der Sache ansetzen müssen. Was
war
das für ein Brief?«
»Dies ist ein Staatsgeheimnis von äußerster Wichtigkeit, und ich fürchte, ich kann es Ihnen nicht verraten, und ich sehe dafür auch keine Notwendigkeit. Wenn Sie mit Hilfe der Fähigkeiten, die man Ihnen nachsagt, einen solchen, wie von mir beschriebenen Umschlag samt seinem
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