Die Ruhelosen
Geigenhals, und ihre sinnlichen Lippen dehnten sich kaum merklich bei jedem hohen Ton, den sie ihrer Violine entlockte. Es war, als perlten Tränen aus dem Instrument. Und selbst für einen abgebrühten Musiker wie Elia Costantino Italo, der weiß Gott schon die ganze Welt gesehen hatte, war es eine Herausforderung, ihrem Zauber nicht zu erliegen. Als sie auf ihrem Hocker in der Ecke in sich zusammensank, die Zeit der Pause abzuwarten, ertrank Elia in ihrer Abwesenheit.
Heute trug sie das dunkelgraue Gewand mit den kontrastierenden Biesen, hochgeschlossen, wie immer, die enge Jacke mit der durchgehenden Knopfleiste, einen hohen Taillengürtel, den er an ihr noch nie gesehen hatte, und die gewohnt schäbigen Stiefeletten, an denen sich ein weiterer Knopf gelöst hatte. Er kannte ihr Kleidersortiment, sie hatte drei Kostüme, die wohl ganz ihr gehörten, und einpaar einzelne Stücke, eine grüne Stola, einen Pelzmuff und eine Trachtenbluse, die sich die Frauen untereinander teilten. Und eben diese Schuhe. Nur sie wusste, wie es wirklich um diese Sohlen stand, aber auch von seinem Sitz aus sahen sie flach wie Flundern aus.
Elia starrte.
Seine Angebetete saß dort mit dem gewohnt trüben Ausdruck und wusste nicht, wie sehr sie zirzte. Wann, wenn nicht jetzt? Er war ein Mann von Schneid, er war größer, älter, sicherer als sie, er kannte sich doch aus in dieser Welt, also stand er plötzlich vor ihr, breit, stabil und mächtig ins Kreuz geworfen, und hätte sich doch verfluchen mögen. Die Spanne bis zu ihrer Antwort kam ihm unmenschlich lang vor. Hatte sie ihn überhaupt gehört? Waren seine Worte im dürftigen Applaus für den Zauberer untergegangen? Sie war so quälend zurückhaltend, so verletzend allein, dass er sich beinahe nicht getraut hätte, ihr das Stückchen Kolophonium hinzuhalten, das er für ihren Geigenbogen besorgt hatte. Das kehlige Schnattern der Schweizer Gäste, das nun allüberall und um sie herum Vokabel an Vokabel drängte, verstopfte ihm die Gehörgänge und verschluckte jeden Laut, der nicht mit ebendiesem Selbstverständnis der bestimmenden Gesellschaft ausgesprochen war, so dass er ihr schleppendes »Danke. Ich hätte nicht gewusst, wo ich welches herbekommen sollte«, beinahe selbst überhört hätte.
Durch das Bogenharz hatte er sie und Bruchstücke ihrer Geschichte also doch noch kennengelernt. Aber zurückschauen mochte einer wie Elia nicht, weder für sich noch mit jemand anderem, er war als Mann für den Bug gemacht und nicht fürs Heck, oder noch besser: für den Ausguck, und so sah er die Gefahr, die sich um die russischen Frauen zusammendräute, noch bevor irgendein Offizieller sie darauf aufmerksam gemacht hatte. Elia fasste einen Entschluss.Und als die Katze dann schließlich aus dem Sack war und man die Ostjuden gerne wieder woandershin verfrachtet hätte, wenigstens die, die man noch irgendwie verfrachten konnte, an einen Ort am besten außer Landes, wenigstens aber über die eigene Kantonsgrenze hinweg, auch wenn man noch nicht wusste, wie und wen und wann genau, aber möglichst bald und möglichst alle, außer vielleicht dieser einen schroffen Schönen, war er zur Stelle, stand in gewohnt gezierter Manier vor ihr, die Hand mit den beiden Handschuhen ins hohle Kreuz gesteckt, die andere frei heraus ihr hingehalten, und er stellte mehr fest, als dass er fragte: »Êtes-vous Juive?«
»Oui.«
»Eh bien, donnez-moi vos papiers, on va se marier.«
das längste halbe Jahr
Küsnacht, 1921
Es zeigte sich: Sie hatten alles richtig gemacht. Sie waren noch immer da, an der Dorfstraße im Herzen Küsnachts, die Kellertablare waren wie eh bestückt, sie hatten die Engpässe der Kriegsjahre recht gut überstanden, alle Kinder gesund durch die erschöpfende Zeit der Spanischen Grippe durchgebracht und keines verloren, und das Jahr 1921 dürfte nun endgültig zu ihrem Jahr werden.
Guerrino hatte den rechten Zeitpunkt geduldig abgewartet und dann blitzschnell alles ordnungsgemäß in die Wege geleitet. Wie die Schweizer: pedantisch genau, vorbildlich, ordentlich, sauber, pünktlich und korrekt. Mit einem Wort: perfekt.
Die Akkuratesse in Guerrinos Umgang mit allen, seine eingefleischte Beflissenheit, nie unangenehm aufzufallen, das gemeinsame Üben unsichtbar, aber stets hilfreich und schlau zur Stelle zu sein, wenn sie es denn vermochten, hatten die Senigaglias in Küsnacht zu einem inoffiziellen Teil der Gemeinde werden lassen. Und als eines Tages im späten Mai 1918 selbst Comsola
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