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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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und kantonalen Behörden Kartoffeln mit einem Durchmesser von mehr als 2 ½ cm ohne ausdrückliche Ermächtigung der eidg. Zentralstelle für Kartoffelversorgung nur zu menschlicher Ernährung oder zur Saat verwendet werden dürfen. Uebertretungen werden mit Buße bis auf Fr. 10   000 oder mit Gefängnis bis zu 3 Monaten oder mit Buße und Gefängnis bestraft.
     
    Ein gründliches Volk. Buße und Gefängnis also. Cheina schüttelte den Kopf. Sie stellte sich die Schweizer gerne vor, wie sie neben jeder einzelnen Kartoffel das Metermaß aufzogenund die Erdfrucht vermaßen. Gewissenhaft und untrüglich. Alles erschien ihr kleiner hier. Die Längen- und die Flächenmaße in diesem eigenartigen Zwergenland waren so beschränkt im Vergleich zu ihrem Heimatland. Ihrer Erde, dem festen, lehmhaltigen Boden, dem sie entstammte. Das Land … die Weite … die Ferne … der Wind.
     
    Mit Einzug der Abenddämmerung des ansonsten datumslosen Sonntags im Jahre 1901 hatte die damals achtjährige Cheina Malka jegliche Kindheitserinnerung an die Dunkelheit verloren. Jedes helle Bild, das sie einst voller Wertschätzung und Liebe in ihrem Herzen getragen hatte, übergab sie dem Feuer jener Brandnacht, sie spürte nur noch den Südwind an ihren Wangen, in ihrem Haar. (Und dann etwas Hässliches, ein Ei vielleicht.)
    Was danach kam, nach dieser Nacht, waren endlose Fußmärsche westwärts die Sonnenbahn entlang, waren Versteckspiele mit berittenen Männern, nur dass dies keine Spiele waren und die Verstecke immer so unzulänglich, so lächerlich, so klein … und doch: so gut. Jedesmal: gut genug. Es reichte. Man konnte nicht sagen, sie hatten Glück. Was Glück war, hatte Cheina ebenfalls dem Feuer und der Nacht übergeben, aber sie kamen davon. Mit bescheidenen Hilfen hie und da. Einmal gab ihnen ein Bauer, der sie bei einem Regensturz in seiner Scheune entdeckt hatte, Rohmilch zu trinken, ein anderes Mal durften sie bei einer Familie die Banja benutzen. Nie blieben sie länger als eine Nacht, nie nahmen sie Geld, ein Bett im Stroh, ein Schweigen, und zum Dank spielten die drei auf ihren Fiedeln.
    Cheina entwickelte einen stummen Zeitvertreib, der sie unterwegs in Bewegung hielt, ein Rätselraten nur für sich allein: Wie oft passierte es, dass sie auf einem Hügel, einem Feld, einer Wiese von weitem einen Baum stehen sah, der beim Näherkommen aus zwei, drei oder wundersamerweisevier einzelnen Stämmen bestand, die so dicht beieinander, manches Mal fast umschlungen standen und gemeinsam die herrlichsten Kronen bildeten? – und so komponierte sie im Kopfe Weisen für diese Baumfamilien, gab jeder einen eigenen Namen und probte stumm die Noten, mit jedem Schritt, den ihre müden Füße taten.
    Einmal nahm sie ein Schnitter auf dem Felde mit, der hatte sie kommen sehen und ließ sie abends nach getanem Tagwerk auf dem Karren ein Stück des Weges mitfahren. Sein Hof lag abseits, der Hofherr war verreist. Und so gab es eine ruhige Nacht im Warmen. Die größeren Dörfer und Städte aber mieden sie. Nach zehn oder elf Tagen langten sie in Odessa am Schwarzen Meer an, wo sie ein Schiff bestiegen. Die Stadt, in der sie später ankerten und wo sie schließlich das Schiff wieder verließen, hatte Cheina kaum wahrgenommen. Ihr Kopf war leer, und ihr Körper voller Schmerzen. Dass der Tod sie nicht holen kommen wollte, hatte ihr beinahe den Willen gebrochen, und doch war dieser Todeswunsch das Einzige, was sie noch am Leben hielt. Was machte, dass sie einen Fuß wie blindlings vor den anderen setzte, wollte sie doch unbedingt aus diesem Kampf als Siegerin hervorgehen – und sterben.
    Dort, in dieser Stadt, hatte sie zum ersten Mal diese befremdlichen Blicke bemerkt, man hielt sie für Zigeuner, fahrendes Volk, für solche, die bestimmt Ärger brachten, die man besser weiterziehen ließ, die keiner haben wollte. Und doch hingen ihr diese Blicke nach, als könnte man sie nicht von ihr lösen, diesem stillen düsteren Menschenkind, Alabasterhaut und Rabenhaar, inmitten dieses armseligen Grüppchens lumpenbehangener Menschen; Vorhut einer anderen Menschenwelle, einer kommenden Flut. So viel ahnte man da schon, und besorgt um die eigenen Lebensmittelvorräte, den eigenen Fortbestand, scheuchte man sie aus der Straße, um die Ecke und außer Sicht.
    Die Mutter hielt die Fahrkarten in der Hand und stierte verständnislos in den Trubel des Bahnhofes. Menschen, die fremde Sprachen redeten und deren Mienen so ganz anders waren, böse fast, wie konnte

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