Die Ruhelosen
gelangte, spielte sie, Chopin, Liszt, Strauß. Am liebsten russische Weisen. Dann konnte es sogar geschehen, dass sich etwas in ihrem Gesicht, in ihrer Miene öffnete, eine geheime bislang verschlossen gehaltene Türe, die in Räume führte voller Erinnerung, Sehnsucht und Schmerz, und je mehr sie die Musik verwundete, umso heftiger strich sie den Bogen über die Saiten, ließ dessen Rosshaar vibrieren und vibrierte mit jeder Faser ihres jungen, elastischen Körpers mit. Ihre Verlorenheit war so groß, so umfassend, dass um sie herum unweigerlich das ganze Etablissement in Tränen versank. Ein Meer der Schwermut erfasste die Männer, die um ihre verpassten Gelegenheiten trauerten, und selbst die Frauen liebten sie in diesem Moment, und sie fühlten sich ihr auf eine Weise verbunden, die keinerlei Worte bedurfte, Worte wären der Vollkommenheit des Augenblickes nicht würdig gewesen.
Zwischendurch, wenn es dann doch Spielpausen und damit wieder Raum für Atemschöpfen, Gespräche, Träume und Mutmaßungen geben musste, hockte die Musikerin gestaltlos auf einem Schemel in der Ecke und verschwand in der Tapete, dem Vorhang, der Wand. Ihr empfindsamer Mund blieb geschlossen, man sah ihr Atmen nicht, nur hin und wieder und auch nur, wenn man den Blick lange genug auf sie gerichtet hielt, erkannte man so etwas wie ein Aufbäumen des Brustkorbes, gefolgt von einem Insichzusammensinken, so dass die Wartende noch mehr Tapete, Vorhang, Wand wurde, als sie in diesen Momenten der Pause ohnehin schon war.
Cheina hasste Wartezeiten, wenn irgendein blöder Bajazzo seine Kunststückchen zum Besten gab, für den dochkaum jemand ein Lachen übrig hatte, sie hasste die Zauberkünstler, von denen dieses Land Dutzende hervorzubringen schien, die doch niemanden so recht hinters Licht zu führen vermochten mit ihren gepanschten Auftritten, den schäbigen Tricks, und bei denen der Anfangserwartungsapplaus den Schlussapplaus gewöhnlich übertraf, weil nichts als ein schales Gefühl zurückblieb im Saal, die Enttäuschung darüber, noch nicht einmal gut betrogen worden zu sein; Cheina verabscheute das Nichtstun, das Dasitzen, und in ihrer Unversöhnlichkeit kletterte sie ein ums andere Mal dem Teufel auf den Karren und bat ihn, sie mitzunehmen, weg von hier und fort aus diesem Leben, raisonierte mit ihm stumm und ohne Luft zu holen, bis er sie einmal mehr von seiner Schippe schubste, zurück in die Aarauer Wirklichkeit des Hotel Gerber Terminus, und ihre Lungen sich wieder mit Atem füllten.
Die Blicke der Männer auf ihrer Haut spürte sie wie Krimsand, das Schmirgelpapier des Vaters, den sie mitsamt Schreinerei zurückgelassen hatten … als es brannte … als alle Fenster zerbrachen, die Balken barsten …
Sie hätte sich eine dicke Brille gewünscht, eine mit drei Zentimeter dicken Gläsern, um besser geschützt zu sein. Einen Hut, einen Sack über dem Kopf, im mindesten ein Tuch. Ein feuchtes Grab. Aber der Tod wies sie ab. Sie hätte nie gedacht, überhaupt so lange zu überleben.
Sie waren nun schon einige Monate in dieser Stadt, Cheina zählte sie nicht, und Äonen weg von der Heimat, von Jossel, Sophie …, lange genug, um Schriftzeichen und Sprache kennenzulernen, die hier das Leben regelten. Ohnehin waren Sprachen für Cheina nichts anderes als neue Noten, die man einzustudieren hatte. Neue Zeichen für das immer gleiche Altbekannte. Und da die echten Notenblätter in diesen Zeiten eine teure Rarität blieben und ihre eigenen zu zerfleddern drohten, zog sie sich Morgen für Morgen dieZeitung vors Gesicht und studierte die Musikalität der Meldungen. Ihr ureigener Weg, mit dem Land, das sie aufgenommen hatte, Bekanntschaft zu schließen, war das Studieren der Anzeigen geblieben.
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Aber auch die Meldungen des Gemeinderats verfolgte sie mit Sperberblick:
Bekanntmachung. Produzenten und Besitzer von Kartoffeln werden darauf aufmerksam gemacht, dass gemäß Verfügungen der Bundes-
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