Die Ruhelosen
bei der lokalen Kirchgemeinde auftauchte und sich ostentativ unter die Fahne mit dem Schweizer Kreuz setzte, um ihrerseits alte Wollreste zu Socken für Grenzwächter zu verstricken, war die weibliche Bevölkerung auch mit ihr versöhnt.
Das erste Datum, das für die Eheleute monumentale Bedeutung erlangte, war der 12. Februar 1921. Das Eidgenössische Politische Departement erteilte
nach Einsicht eines Gesuches der Kanzlei der Direktion des Innern des Kantons
Zürich, vom 2. Oktober 1920 – in Ausführung des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1903 betreffend die Erwerbung des Schweizerbürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe, sowie des Ergänzungsgesetzes vom 26. Juni 1920 – dem italienischen Staatsangehörigen Guerrino Senigaglia, Comestiblesgeschäft, geboren in Alzano Lombardo (Italien) am 30. Juni 1880, wohnhaft in Küsnacht (Zürich), sowie seiner Ehefrau und seinen sechs minderjährigen Kindern, die Bewilligung zur Erwerbung eines schweizerischen Kantons- und Gemeindebürgerrechts.
Sein Rechtskonsular klärte Guerrino in einem langatmigen Brief schwätzerisch und völlig überflüssigerweise darüber auf, dass
das Schweizerbürgerrecht jedoch erst dann erworben ist, wenn zu gegenwärtiger Bewilligung der Erwerb eines Gemeinde- und Kantonsbürgerrechts gemäß den Bestimmungen der betreffenden Kantonsgesetzgebung hinzugekommen ist. Gegenwärtige Bewilligung erlischt
, dieses Wort hatte er von Hand zweimal mit roter Tinte unterstrichen,
wenn der Inhaber, gemeint sind Sie, Herr Guerrino Senigaglia, derselben nicht binnen drei Jahren vom Datum der Ausstellung an ein Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht erworben hat. Ebenso hört sie auf, gültig zu sein für Kinder, die volljährig werden, bevor ihre Eltern das Schweizerbürgerrecht erworben haben.
Guerrino überflog den Rest:
Personen, welche neben dem Schweizerbürgerrecht dasjenige eines fremden Staates besitzen, haben diesem Staate gegenüber, solange sie in demselben wohnen, keinen Anspruch auf die Rechte und den Schutz eines Schweizerbürgers. Die Bundesbehörden müssen es ablehnen, sich für naturalisierte Ausländer, die noch der Militärpflicht in ihrem frühern Heimatstaate unterstehen, bei der betreffenden Regierung zu verwenden.
Lauter Blabla, Guerrino ärgerte sich.
Allein für diese Bescheinigung musste er schmerzhaftteure zwanzig Franken bezahlen, die Kosten für den Rechtskonsular traute er sich schon gar nicht mehr zusammenzuzählen. An den Rand hatte der mit seiner krakeligen, wichtigtuerischen Schrift noch ein Sternchen gemacht und daneben notiert:
Tullio!! Majorenn in 3 Jahren!!
Als ob man Guerrino extra darauf aufmerksam zu machen brauchte, dass die Zeit drängte. Guerrino wusste, was zu tun war.
Vier Monate darauf bestellte ihn der Rechtskonsular in sein Bureau und las ihm einen Auszug aus dem Protokoll der Kirch- und Bürgergemeindeversammlung vom Sonntag, dem 26. Juni 1921, vor:
»Im Anschluss an die Primarschulgemeinde fand heute in der Kirche zu Küsnacht, nach vorausgegangener vorschriftsgemäßer Publikation in den obligatorischen Lokalblättern, für die Bürgergemeinde nebst diesen auch im kantonalen Amtsblatt, eine Kirch- und Bürgergemeindeversammlung statt, behufs Erledigung folgender Traktanden:
A) Kirchgemeinde (siehe Protokoll)
B) Bürgergemeinde:
1. Genehmigung der Armengutsrechnung, der Waisenhausbaufondsrechnung, der Fennerstiftrechnung und der Rechnung des Fondes für die Armenhaus-Insassen.
2. Antrag des Gemeinderates (bürgerliche Sektion) betreffend Erteilung des Gemeindebürgerrechtes an G. Senigaglia und Familie an der Dorfstraße.
3. Antrag der Pflege betreffend Aufnahme eines Darlehens von Fr. 20‘000.«
Guerrino hätte das Traktat lieber selber gelesen, er hatte Mühe, den Ausführungen zu folgen, und hätte gerne das eine oder andere Wort mit eigenen Augen gesehen. Aber sein Fürsprecher genoss sich in der Rolle des großen Verkünders und wollte damit wohl auch die nächste Rechnung geltend machen. Guerrinos Lippen verengten sich zu zweischmalen Strichen, auf die man gut und gerne italienische Kraftausdrücke hätte setzen mögen. Die Hände in seinen neuen Florentiner Strohhut gekrampft, hörte er weiter zu.
»Nichtstimmberechtigte werden aufgefordert, das Lokal zu verlassen …,
türülü, türüla, das ist für Sie nicht wichtig, äh …
gegen die Reihenfolge der Traktanden …,
das auch nicht …, mal sehen, wo geht’s denn weiter … ah, da:
Traktandum 2: Antrag des Gemeindesrates
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