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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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Die »Mattener« waren François’ liebster Schimpfgegenstand: Wenn er über sie spottete, über ihren selbsterfundenen Dialekt, ihre lästige Geheimsprache, die er nicht verstand und deretwegen er sich ärgerte, wurde François’ Kopf jeweils geschwollen und rot, so regte er sich über dieses Lumpenpack auf. Und: Wurden es nicht immer mehr? Hatten die dort unten nicht einen unnatürlichen Hang zur Selbstvermehrung? Kein Wunder, dass man in den Tagesblättern immer häufiger von Überfremdung las. An jedem Rockschurz ein halbes Dutzend Schmutzfinken, einer verdreckter als der andere. Von Assimilation konnte keine Rede sein. Da verstand er die Nationalisten schon eher. Die altehrwürdigen Berner, die Burger mit Bodenrecht. Man musste schon schauen, wo man blieb, wenn das mit den Kantonsfremden und denen, die über die Landesgrenzen in die Schweiz, ins schöne Bern, strömten, nicht bald ein Ende nahm. Noch ein paar Jahrzehnte mehr, hatte er seinen besten Kunden von Graffenried sagen gehört, und die Zersetzung der Schweiz wäre nicht mehr aufzuhalten.Man müsste halt alle zwangseinbürgern, hatte François darauf gemeint, und der andere hatte die Augenbrauen erstaunt in die Höhe gezogen. »Die in der Matte auch?«
    Nein, dort unten hatten seine Mädchen nichts verloren. Einmal mehr schickte er seine Frau Mauritzia den Töchtern hinterher. »Geh, hol sie heim. Und wehe, wenn sie sich irgendwo herumtreiben, wo ich es ihnen verboten habe! Du sagst es mir dann!«
    Mauritzia schaute zu ihrem Mann hinüber, der hinter der großen Sortimentsvitrine stand und Klingen, Pinsel, Seifen- und Bartschalen aus Porzellan einsortierte. War er schon immer so gewesen? Herrisch? Bestimmend? Kalt? In seinem hellbraunen Anzug, den er sich drüben bei Ciccioriccios hatte maßanfertigen lassen, war er ihr so fremd. Als ob der Anzug mehr Ausdruck hätte als der Mann, der in ihm steckte. Einen abweisenden Ausdruck. Einen Ausdruck permanenter Steigerung. Steil wie seine Stirn und eng wie seine Augen. Wie einer, der das große Los gezogen hatte und vor lauter Arbeit, die ihm nun durch diesen Gewinn entstanden war, zu lächeln verlernt hat. Zu lächeln gab es ohnehin nicht viel in diesem Hause. Mauritzia konnte sich auch gar nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal herzhaft herausgelacht hatte. War es in Sankt Immer? Oder früher noch? Als Kind? Vielleicht mit ihrem Bruder Jeremias und ihrer Schwester Lina, den Eltern auch, zusammen …
    Aber sie sollte ja die Kinder suchen gehen. Etwas hielt sie zurück. Ihre Hände zuckten. Noch einmal schaute sie sich diesen Fremden an, der da zwei Meter von ihr entfernt mit einer neuen Tondeuse herumhantierte. Die Hosenaufschläge waren in perfekter Linie geometrisch genau hochgeklappt, die Bundfalte saß, die oberen fünf der sechs Knöpfe seines Gilets fest verschlossen, die Ärmel des Jacketts der Mode entsprechend knapp angesetzt und in klarer Linie bisan den Handrücken auslaufend. Das englische Buttondown-Hemd gestärkt. Heute trug er die dunkelgraue Krawatte mit dem braunen Gittermuster. Sie hatte diese Krawatte früher schon an ihm bestaunt, wo er sie wohl herhatte? Er war immer wie aus dem Ei gepellt, vom Scheitel bis zur Sohle, makellos. Eine blankpolierte Medaille. Grad ebenso scheinend, grad ebenso kalt. Wie nur hätte sie seine Kehrseite verstehen sollen?
    Sie staunte. Diese glänzenden Schuhe mit der modischen Außennaht. Kurz bevor sie endlich gehen wollte, fiel ihr Blick auf seine Hand. Mauritzia stutzte. »Franz, wo hast du deinen Ring?«
    Er mochte es nicht, wenn sie seinen Namen auf Deutsch aussprach. »Was kümmert dich mein Ring? Habe ich dir nicht einen Auftrag gegeben?«
    Er blitzte seine Frau an, dass sie sich sogleich daran machte, Stiefeletten, Mantel und Strickschal zu holen. Sie war so unglaublich fett geworden. Aufgedunsen wie eine Schnapsdrossel, aber sie trank ja nicht, seine Mauritzia, tat so, als wäre sie die Reinheit selbst, dabei war sie beschmutzt, beschmutzt, beschmutzt. Dieser alte Bumsklumpen. Hätte er sich denken können, dass sie als ehemalige Dorfmatratze empfindungslos war, eine Frigide, das war sie. Warf die Kinder aus sich hinaus wie eine Hündin die Welpen. Und war so ekelhaft fett geworden. Und erst ihr Kopf! Du meine Güte, wenn er sich nur einmal ihren Kopf ansah! Diese Frau Frankenstein, gigantisch. Im Profil betrachtet, liefen Kinn und Nacken sturzgerade in den Hals hinunter, das gibt sicher einmal einen Kropf. Was wird da die Kundschaft

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