Die Ruhelosen
denken! Wo wir doch mit Mode handeln, mit Schönheit und mit Schein. Ihre Brust und ihr Bauch verschmolzen in ein unförmiges Etwas, eine amorphe Masse, wie ein Klumpen Lehm, den der Meister weggelegt hat, weil die Qualität nur minder ist. Und auch ihr fabelhafter Arsch war ganzverloren. Sah einfach nur lachhaft aus in ihrem weißen Rock, der ihr bis knapp an die Knöchel hing, darüber das selbstgehäkelte Leibchen mit dem doofen Ansatz einer Kapuze im Nacken (hätte sie doch ruhig eine ganze Kapuze dazugehäkelt, die hätte er ihr dann schon über den Kopf zu ziehen gewusst, der François), längsgestreift, blau, weiß, grün, weil sie in einem Modejournal gelesen hatte, dass Längstreifen schlank machen (aber nicht eine Matrone wie dich, dich ganz bestimmt nicht!), und jetzt dieses gestrickte hudelige Dreieck aus einem Farbengewirr, man musste sich ja für die eigene Frau schämen, und wann hatte sie sich überhaupt das letzte Mal die Haare gewaschen? Die stanken doch zum Himmel! Er müsste sie ihr dringend wieder kürzen, ondulieren, wegstecken (am besten ganz abschneiden und ihr eine Perücke verpassen), oh, war er böse, er war so böse, und als er sah, wie sich seine Frau mühevoll vornüberbeugte, den Arsch in die Höhe gereckt, weil sie sich den Schnürsenkel band, schrie er: »Blöde Kuh! Hier!«, warf ihr die Arbeitsschürze zu und stürzte kurzerhand selber aus dem Laden.
Die Aufteilung war klar: Mausi war die Brave, Gehorsame und Mondaine der Wildfang. Ihrer Großmutter Krisztina, die sie nie gekannt hatte, wie aus dem Gesicht geschnitten, war sie Berns kleine Prinzessin. Sommersprossig, lockig, blond. Und verwegen. Kein Verbot kümmerte sie, und so hatte sie ihrer großen Schwester aufgeregt ins Ohr geflüstert: »Zur Matte runter, komm!«
Zusammen rannten sie durch die Lauben, dass ihre Kleidchen flatterten – die Mutter hatte sie aus einem unruhig gemusterten Stück Stoff genäht, enger Rundhals, Kordel über der Hüfte und ein appliziertes Häkelröschen als Knopf –, Mausi schwang ihren langen, dunkelblonden Zopf nach, Mondaines helle Haare wehten frei. Hand in Handsprangen sie durch die Wasserwerkgasse, die Gerberngasse hoch und zum Mühlenplatz zurück, nur um sich dort nahe der Aare auf den baren Boden zu setzen und dem Treiben des Herbstlaubes zuzuschauen, das auf den grünen Wellen ritt. Dabei lehnte sich Mondaine an ihre Schwester und ließ sich von ihr halten. »Schau nur, da ist ein goldenes!«
»Und da ein gelbes!«
»Und dort schwimmt eine Kastanie!«
»Oh, schaunur, der halbe Wald kommt angeschwemmt …«
»Bern, die Schweiz – alles verschwindet und fließt den Fluss hinab!«
»Wo fließt er hin?«
»Die Aare fließt in einen anderen Fluss, sie fließt in den Rhein!«
»Oh, und dann ins Meer …«
So saßen und so staunten sie in trautem Kindheitsglück, Schwesternglück, und sammelten innere Bilder. Der Wind trug Küchengerüche aus den Häusern herüber, und die Luft war schon nicht mehr sommerlich warm, aber in Mausis Armen fühlte sich die Jüngere geborgen. Seit sie denken konnte, war Mausi für sie da. Führte sie, leitete sie, folgte ihr, ließ sich von ihr leiten. Die Stunden in der Schule, in denen sie getrennt voneinander waren, kamen Mondaine quälerisch lang vor, und kaum ertönte die Glocke, schwang sie die schlanken Beine über die Bank und rannte hinüber zum Zimmer, aus dem ihre große Schwester jeden Moment, jetzt dann gleich, kommen würde. Den Tornister aufgeschnallt, flogen sie nebeneinanderher, kamen immer viel zu spät nach Hause und machten mehr als nur das eine Mal einen unerlaubten Umweg. Mehrfach war Mondaine mit nur einem Schuh angekommen, und sie wusste nicht einmal, wo der andere liegengeblieben war.
Hinten beim Dählhölzli hatten sie unter einem wilden Fliederbusch einen kleinen Tierfriedhof ausgehoben. Dalegten sie dann behutsam Fundstücke wie tote Käfer, leblose Spinnen und gelegentlich ein Vogelskelett oder eine angenagte Maus, die sie zu spät einer Katze abgejagt hatten, hinein und beteten in selbsterfundenen salbungsvollen Sprüchen für ihr Seelenheil. Abwechslungsweise sprachen sie Worte, die sie für sakrales Latein hielten, und besonders Mondaine legte sich ins Zeug. Ihr kam alles Theatralische entgegen, ihr Gemüt blühte regelrecht auf, wenn sie spielen, tanzen, posieren und sich produzieren konnte. Die Welt war ihre Bühne. Und ganz besonders die Berner Matte. An Bewunderern mangelte es ihr oben auf der Bundesterrasse und
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