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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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immer man dem Pferdemist ausweichen musste, den die nachlässigen Kutscher nie aufzusammeln pflegten. Wie es sich nahm, was es begehrte.
    Je strenger der Vater sein Regiment über die Kinder führte – die Schals und Hüte und Seidentücher, mit denen er sie ausstaffierte, betrachtete er lediglich als Leihgabe aus seinem Geschäft –, umso nachsichtiger begegnete er seiner Frau. Er konnte ihr nichts abschlagen, selbst wenn er ihre Lippenstift- und Nagellacksammlung albern fand, sie hortete so viele verschiedene Rotschattierungen in ihrem Depot, wie seine Mutter früher Spielzeug zusammengerafft hatte – aber warum auch nicht. Cheina verlangte ja sonst nicht viel; wenn man sie in Ruhe üben ließ, wenn man dieKinder von ihr fernhielt, war sie die perfekte Gattin: anspruchslos und jederzeit herzeigbar. Da konnte man ihr diesen Spleen gut nachsehen, befand Elia.
     
    Eigentlich hatte er sie zu ihrem zweiunddreißigsten Geburtstag mit etwas ganz Besonderem, mit einer guten Nachricht überraschen wollen. Er hatte sich ausgemalt, dass er ihre Mutter und die Schwester würde einladen können, das neue Kind wäre ja auch bald da, und man hätte gerne ein paar Wochen oder Monate miteinander verbringen können, die Wohnung war groß genug. Aber bald hatte Elia merken müssen, dass sich die Suche nach den Verwandten schwieriger gestaltete, als er erwartet hatte. Der Mutter Spur hatte er noch bis an einen kleinen Grenzort in der Nähe von Basel verfolgen können. Wohin sie danach gekommen war, ob nach Deutschland oder Frankreich, blieb unklar. Die Schwester schien gleich 1917 in Richtung Großbritannien aufgebrochen zu sein, denn er hatte ihren Namen auf der Passagierliste eines Kanalschiffes ausfindig gemacht, aber danach brach auch dieser Faden ab, und Elia musste sich geschlagen geben.
    Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als seiner Frau einmal mehr Geld für Kosmetika zu schenken. Von seiner erfolglosen Unternehmung erwähnte er kein Wort.
    Und wer weiß, vielleicht hatte sie selbst ja schon längst vergessen, woher sie einst gekommen war und wer sie damals noch begleitet hatte.
    Von sich aus sprach sie jedenfalls nie davon.

Familienalbum
    Bern, 1926
    Nicht unterschiedlicher hätten sie sein können, die beiden Schön-Schwestern: Margit, nach ungarischer Art genannt Mausi, zu groß, zu rund, zu frühreif, mit affig langen Armen, die an ihrem Körper entlang herunterhingen, und Füßen, die sich auch in den dunkelsten Schuhen nicht verstecken konnten. Und Mondaine, die kleine Mondaine, Mondaine, Mondaine, Augenstern. Bereits mit zehn Jahren die perfekte Figur, nicht ein einziges Fingerglied zu lang oder zu kurz, die Proportionen stimmten, und auch im Kopfe war was drin, das konnte Papa Schön jetzt schon sagen, eine ganz Vife, ein kleines Gescheitchen, seine Mondaine. Bei Mausi hingehen war Hopfen und Malz verloren, seufzte er in sich hinein, die würde klar nach ihrer Mutter gehen, und das hieß: aus dem Leim.
    François Schön sortierte die neuen Lieferungen ein: Seitenkämme, Zierkämme, Kammhauben, geformt zu filigranen Krönchen; Etuikämme, geschwungene Schnauzkämme als Dernier Cri: geformt wie der Schattenriss eines Frauenkörpers mit breitem Oberschenkel; Staubkämme, Stielkämme, Gabelkämme, Frisierkämme, Toupierkämme, Coiffeurkämme, Klappkämme, Taschenkämme, Nutzkämme, Seitenkämme, Schmuckkämme; Kämme aus Zelluloid, Kämme aus Milchstein, aus Schildpatt, Horn, künstlerische Verbindungen von Funktionalität und Schmuck aus teurem Elfenbein, besetzt mit heiteren Glitzersteinchen zum Beispiel aus Prag.
    François schaute sich um. Wo waren die Töchter? Diekönnte er jetzt gut zum Einpreisen der Ware gebrauchen. Er stierte auf die Pappschachtel mit den kleinen rechteckigen weißen Preisschildchen, durch deren Löchlein je ein rotes Fädchen geschnürt war. Der Bleistift war gespitzt, alles da, nur seine Mädchen nicht.
    Die beiden waren schon zu lange unterwegs, es waren Schulferien, und er ertrug es schlecht, nicht zu wissen, wo sie steckten. Er vermutete sie wieder unten auf der Matte, bei den Tumben und den Blöden Berns. Zuwanderer der niedersten Sorte, die sich da am Aareufer niedergelassen hatten. Jenische, Zigeunervolk, wer weiß. Juden auch. Taglöhner allesamt. Wusste keiner, was eine rechte Arbeit ist, von denen. Konnte keiner einem geregelten Broterwerb nachgehen. Waren alle unfähig, eine Anstellung über längere Zeit zu halten. Unstet. Flatterhaft und faul, die Männer wie die Frauen.

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