Die Ruhelosen
vor dem Casino allerdings auch nicht, aber nur hier unten, auf der Matte, verstanden die Menschen, worum es ihr eigentlich ging bei dieser Selbstdarstellung: um die Freude am Spiel.
Dabei kam ihr das Kauderwelsch der Hiesigen wie gerufen. Sprachduelle, bei denen die Bewohner der Matte ihre Sprache sprachen und Mondaine erfundene Wortketten einwarf, brachten das Kind dermaßen zum Lachen, dass die Schwestern einmal auf die gloriose, aber unbedachte Idee kamen, die Dauer des Lachens zu messen. Dazu hatten sie extra das große Stundenglas aus der Rathaus-Apotheke ausgeliehen, nur für einen Moment, bitte, wir bringen es auch ganz bestimmt wieder heil zurück (und wer konnte diesem Prinzessli schon etwas ausschlagen mit seinen klaren blauen Augen? Auch die Apothekersfrau Züllig nicht: ein Ding der Unmöglichkeit), und so bereitete sich Mondaine vor, indem sie tief Luft holte, die Lippen für einen Augenblick aufeinanderpresste und dann, als ihre Schwester das Glas umdrehte und der Sand darin zu rieseln begann, loslachte, lachte, weiterlachte, dass die Balken der umliegenden Häuser krachten. Nur ein Kind wie Mondaine konnte auf so eine Verrücktheit kommen. Und nur ein Kind wie Mondaine konnte eine solche Verrücktheit bis anden Rand der Gefahr treiben. Die Lust daran, Aufsehen zu erregen und nicht nur die umstehenden Menschen, sondern ganz besonders auch sich selbst in Erstaunen zu versetzen, hinderte sie daran, Vernunft zu entwickeln. (Dafür hatte sie ja ihre große Schwester, die Frühreife, Besonnene, Vernünftige, wie ihre Mutter sagte.)
Mondaine hatte ihr törichtes Tun damit gebüßt, dass ihr den ganzen Nachmittag lang bis in den Abend hinein schlecht war und sie mehrmals Luft und Galle hatte brechen müssen. Ganz grün und dann blau war sie gewesen im Gesicht, als sie von ihrer Schwester wieder zurück ins Leben geschüttelt wurde. Die Apothekersfrau und der Apotheker schimpften abwechselnd, es schien, sie hatten Angst vor dem Prinzessinnenvater, der für seine Wutausbrüche nicht nur in der Kramgasse bekannt war, sondern über das Quartier hinaus. Zum Glück war die Sache dann glimpflich ausgegangen und nach ein paar Tagen vergessen. Wer konnte auch nur so etwas Blödes ausprobieren, wie einen Weltrekord in Lachen? (François war überzeugt davon, dass diese Idee seiner älteren Tochter entsprungen sein musste, vermutlich aus Arglist und aus Eifersucht; vielleicht wünschte sie der Jüngeren ja insgeheim den Tod?)
Margit, Mausi, jedenfalls weinte nie (was vielleicht ja nur Beweis ihrer grenzenlosen Verschlagenheit war? Oder ihrer Tumbheit?), sie ließ jede Strafe demütig über sich ergehen und legte sich nach erschöpftem Gottesgericht, nach erduldeter Qual, der Länge nach aufs Bett, oder, wenn es noch zu früh dazu war, stellte sich zurück in den Laden und rieb die Silberkämme glänzend, wienerte das Parkett.
Vielleicht war dieses Stummsein, mit dem sie die Rohheit des Vaters ertrug, Grund dafür, weshalb Mondaine so lange nichts von Margits Schattenschicksal mitbekam: Für sie war die große Schwester Zuflucht, Garant, der sichere Boden, auf dem sie sich ausleben konnte. Und wie ein geschickterBühnenarbeiter ließ Mausi auch immer dann den Samtregen über ihre Schwester niedersinken, wenn Gefahr in Verzug war. Auch heute hatte sie ein sicheres Gespür für die Zeit. Zusammen schlenderten die Schwestern noch einmal das Mattenquartier ab und hüpften dann die Fricktreppe hoch, indem sie jede dritte Stufe übersprangen. Wenn ihr Vater sie an der Aare suchen käme, wären sie schon weg.
Zu Hause schlossen sie sich heimlich ins Badezimmer ein. Mondaine hatte die elektrisch betriebene Haarschneidemaschine, die mit der gestrigen Lieferung zusammen mit einigen anderen aufregenden Apparaten aus Solingen angekommen war, aus dem Laden gemopst und überraschte ihre Schwester nun damit. »Ein richtiger neuer Haarschnitt! Topmodern! So, wie ihn jetzt alle Frauen von Welt tragen!«
»Wie denn?«
»Wie Asta Nielsen zum Beispiel. Ein echter Bubikopf – der ist doch längst schon fällig!«
»Wie meinst du das?«
»Den tragen heute alle berühmten Mannequins. Mausi, komm schon!«
»Vater wird das nicht gefallen …«
»Vater wird begeistert sein! Damit locken wir auch neue Kundschaft in den Laden. Wer, wenn nicht wir, sollte mit der Mode gehen?«
Unsicher ließ sich Mausi von der jüngeren Schwester den Zopf entflechten. »Schön ist es«, murmelte Mondaine und streichelte das mausgraue Haar, »aber jetzt
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