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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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muss es ab!« Dann lachte sie und begann ihr Werk. Mausi war hin- und hergerissen. Ihr Herz schlug ganz für Mondaine, nichts an ihr hätte sie je anders haben wollen, nicht das kleinste bisschen, aber ihre Furcht vor des Vaters Reaktion wuchs, und mit jedem Haarbüschel, das fiel, verstrickte sie sich mehr und mehr in dieser Furcht. Gewohnheitsmäßig blieb sie still.
    Als die beiden fertig waren – Mondaine hatte ihre Schwester obendrein überredet, ihr selbst die Haare knapp unterhalb der Ohrlinie schnurgerade abzuschneiden –, betrachteten sie sich stumm im Spiegel. Mondaine grinste und zeigte ihre perfekt waagerechte Zahnreihe. Dann rieb sie sich das Knie, das sie sich heute beim Spiel aufgeschlagen hatte, und sagte: »So. Und jetzt auf zur Schau!«
    Hand in Hand, die Kleine die Große hinter sich herschleppend, stiegen sie die Treppe des Wohnhauses hinab und traten in den Laden.
    Noch nie hatte Mondaine ihren Vater so erzürnt erlebt. Wie ein Berserker stieß er auf die beiden Töchter zu und blieb lauthals brüllend vor ihnen stehen. Verwirrt stellte Mondaine fest, dass seine Wut an ihr vorbeirauschte geradewegs auf Mausi zu, die er mit einer Hand an der Schulter gepackt hatte, schüttelte und anschrie: »Was hast du da gemacht? Maul auf, sag schon! Was hast du deiner Schwester angetan!«
    Es war eine wüste Szene. Die Mutter ging heulend dazwischen, der Vater schlug um sich, der Mutter ins Gesicht, dass diese hintüberstürzte und am Boden liegenblieb, und ehe sich’s Mondaine versah, hatte der Vater schon den Gürtel von der Hose geschnallt und ihrer Schwester Mausi zwei böse Striemen übergezogen. Mondaine schrie auf, die Mutter heulte, der Vater brüllte, Mausi war totenstill, nur ihre Hände wimmerten. Mondaine, die sich und ihre Schwester immer wie ein zweischenkliges Baumblatt empfunden hatte, spürte einen Riss durch ihre Mitte gehen, der sie alle Vorsicht vergessen ließ. Wie geistesgestört schrie sie und schlug mit dem Erstbesten, das sie zu fassen kriegte, einer präparierten Karettschildkröte, einem teuren Ausstellungsstück, auf den Vater ein. Sie schlug auf seinen Rücken, auf seinen Kopf, sie schlug, wo immer sie hinschlagen konnte, und schrie und kreischte und schrie. Das tierischeExponat machte ein krachendes Geräusch, Mondaine hörte gedämpft und wie von weit weit her das zweifache Klingeln einer Glocke, jemand musste den Laden betreten und ihn umgehend wieder verlassen haben. Mondaine schrie und sah nichts außer dieser kleinen, dicklichen, zitternden Hand ihrer Schwester, bis ihr Vater die mittlerweile eingedellte, zerstörte! Karettschildkröte behändigte und Mondaine endlich zu sich kam. Ihr Vater lehnte röchelnd am Schaukasten, die Mutter hatte sich halbwegs aufgerichtet, Mausi war verschwunden. Mondaine weinte nun wieder, wie ein Kind weint, und suchte nach der Schwester.
    Sie fand sie im Badezimmer, wie sie sich das Blut vom Gesicht wusch. Noch bevor sie einen Plan fassen konnten, hörten sie eine Stimme durch das Haus dröhnen: »Kommt sofort herunter, Mädchen, kommt hierher!« Sich an den Händen festklammernd, traten sie vor den Mann, der ihr Vater war. »Du«, und er zeigte auf Margit, »mit dir werden wir morgen zum Hausamann gehen und ein Schandfoto von deinem hässlichem Gesicht anfertigen lassen. Du sollst dich dein Lebtag lang daran erinnern, was für ein wüstes Geschöpf du bist.« Keines der beiden Mädchen wagte einen Atemzug. »Und du, Mondaine, du gehst jetzt sofort hinauf, machst dir die Haare nass und ziehst den Frisierumhang an. Ich komme in fünf Minuten nach und egalisiere diesen Schnitt.«
    Als sie eine knappe Stunde später zurück ins Ladengeschäft trat, sahen die Kunden ein kleines Dämchen, Mondaine, mit einem kecken Schnitt à la Garçonne. Ihr Vater hatte ihr den Nacken mit der Tondeuse ausgeschnitten und die Haare in verschiedenen Konturformen mit strengen Wasserwellen über den Kopf gezogen. Ohne über Margits weiteres Schicksal auch nur ein Wort zu verlieren, hatte er den beiden Töchtern befohlen, die neue Ware einzupreisen. Was das bedeuten konnte, wussten die Kinder seit Jahren.Selbst als ihr Bruder Franz Mauritz noch gesund war und mitgeholfen hatte, kostete es sie Stunden über Stunden, jedes einzelne Stück zur Hand zu nehmen, auf Hochglanz zu polieren, das kleine Papierquadrätchen anzubringen und das feine rote Schnürchen festzubinden. Zuvor musste jedes dieser Etikettchen noch mit einem gespitzten Bleistift und sauberer Handschrift

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