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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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geflüsterten Vaterunsern das Zimmer rückwärts verließ, dem Pagen, der ratlos in der Ecke stand, oder vor sich selbst, die ihrem Papa wieder vertraut hatte nach dem großen Streit im März und die sich nun im noblen Geviert des Hotels Mariahilf vor lauter Kummer nicht zu helfen wusste und unsinnigerweise beschloss, nie mehr aus diesem Zimmer herauszukommen.

Abel und Josiane
    Braunwald, 1936
    Herumgereicht vom einen Fremdenverkehrsdirektor zum anderen, waren Abel und sein Ensemble schließlich zwölfhundert Meter über dem Meeresspiegel oder einen ganzen Bergshang oberhalb der Linth in Braunwald angelangt. Der englischen und französischen und deutschen Touristen hätten es gut und gerne mehr sein können, die Pferdeschlitten mit ihren Pelzdecken standen ganze Abende lang müßig herum, ohne einen Meter weit gefahren zu sein, und Abel fragte sich, wozu er das eigentlich alles auf sich nahm.
    Zu Hause, in Lausanne, bei seinen Eltern, in der Avenue d’Echallens 80, wohnte und wartete noch immer das Hausmädchen Josiane, das seine Eltern einst wohlweislich eingestellt hatten, als Abel ins Flegelalter gekommen war. Sie hatte ihn abzulenken gehabt, daheim zu halten gehabt, auf dass er übte und nicht mit der nutzlosen Ortsjugend herumhing, als sich dieses Übel des Herumhängens unter den Jungen mehr und mehr verbreitete.
    Abel hing nicht herum. Er übte. Stundenlang und dann noch einmal stundenlang. Und es dauerte lange, sehr lange, bis er überhaupt bemerkte, weshalb Josiane in den Familienhaushalt gekommen war.
    Josiane war ein junges protestantisches Mädchen, das in der Nähe von Genf aufgewachsen war. Ihre Vorfahren waren gegen Ende des 17. Jahrhunderts aus dem Languedoc mit Tausenden und Abertausenden von Hugenotten zugewandert, auf der Flucht vor dem katholischen Klerus, der unter der Bevölkerung erbarmungslos wütete und Andersgläubigeihrer Rechte beraubte. Viele nutzten die Schweiz lediglich als Durchgangsstation, andere aber blieben, ein paar davon waren Josianes Vorfahren.
    Josiane war aber auch einfach ein junges Mädchen.
    Und schließlich: Josiane war Abels Mädchen.
    Die sieben Jahre Altersunterschied würgten ihn nicht. Der andere Glaube würgte ihn nicht. Das gelegentlich von der Mutter ausgesprochene und immer spitz gemeinte »Schickse« würgte ihn nicht. Ihn würgte, dass er einem Komplott zum Opfer fiel und nichts gegen dieses Fallen unternehmen konnte.
    Josiane war unendlich zärtlich. Und Josiane war unendlich zart. Ihr rosiges Gesicht hatte ihn angezogen wie einen Schiffbrüchigen der Leuchtturm. Er war gestrandet zu ihren Füßen, und sie hatte ihn emporgehoben in die Gefilde der Leidenschaft und ins Land der Innigkeit.
    Manch eine Melodie komponierte Abel im Geheimen nur für sie. Sie wusste darum und begnügte sich damit. Wenn Abel zu Hause war, war er tagsüber der besessene Musiker, und des Nachts spielte er Symphonien auf ihren Saiten.
    Wenn er fort war auf Tournee, hörte Josianes Leben auf, zu zählen. Dann wartete sie ohne ein Gefühl für Zeit und wachte aus ihrer Trance erst wieder auf, wenn sie seine rhythmischen Schritte die Treppe herauftakten hörte. Diese Schritte beschleunigten ihren Herzschlag, wie nichts anderes es gekonnt hätte. Und ihr Herzschlag inspirierte Abel zu Kompositionen, sehnsuchtsvollen, liebevollen, wie nichts anderes es vermocht hätte.
    Abel saß am Fenster seiner Kammer und schaute hinaus in die zugeschneite Landschaft. Die Davoser-Schlitten standen unbenutzt und in Erwartung eines tollen Winters. Wie nur, wenn schon der Herbst so leblos an Gästen war. Das Establishment kannte diesen weißen Flecken auf der Landkarte noch nicht. Braunwald, wer kam schon hierher?In Grindelwald hätte er sein sollen. Grindelwald, nicht Braunwald, dort waren der Chic, die Reisegesellschaften, die einem das Trinkgeld in Noten zusteckten. Aber hier? Bei Kartoffelsalat und Cervelat oder dem Glarner Schabzigerbutter, genannt »Laussalbe«, mon Dieu! Abel hatte keinen besonderen Blick für die Schönheiten dieser Welt. Er sah nicht die goldgefärbten Wälder, nicht die üppigen Bergwiesen, nicht das leuchtende Sternenmeer. Wenn er seine Josiane nicht sehen konnte, sah er Notenblätter, die er einstudieren wollte, oder solche, die noch zu beschreiben waren, und sonst nichts.
    Heute schrieb er nicht. Heute saß er da und fürchtete um seine Geige, bei dem ewig wechselnden Klima dieser Berge. Da, wo sonst der Kinnhalter auflag, hatte er ein dunkelblaues Halstuch umgebunden. In

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