Die Ruhelosen
blauen und roten Tupfern darin, unter rauschenden Birken- und Pappeldächern hindurch an frischduftende Kieselflussufer, über die unendlichen Felder der Sopronpuszta mit ihren krummen, windschiefen Bäumchen, entlang kilometerlanger Alleen, die sich durchs Grasland zogen, auf dem man Dutzende von Störchen neben hochgeschossenem Kerbel staksen und nach Futter schnäbeln sehen konnte, elegant, geziert, hochnäsig.
Onkel Balin kümmerte sich Tag für Tag neu um das Haar seiner Nichte. Voller Zärtlichkeit und fast wie in väterlicher Fürsorge kämmte er es ihr und erzählte dabei von alten Zeiten. Erzählte von Imre Lukasz, seinem älteren Bruder, der nie aus dem Großen Krieg zurückgekehrt war. Erzählte von seiner Halbschwester Anna Sebastiana, vom irreparablen Schaden, den sie durch die Diphterie genommen hatte, weshalb sie beim Gehen wie ein Kreisel mit Unwucht eierte. Zeigte ihr Fotos der Familie, auf die Rückseite eines jeden Verstorbenen hatte er sorgsam ein Kreuz gemalt. Er erzählte ihr von ihren Vorfahren, allen voran von Alžbeta Csöke, die mit František Schön und einer ganzen Equipage den Exodus begonnen hatte, erzählte ihr von einem weiteren Bruder, Lipot Dušan, ebenfalls Friseur, der Ungarn nach dem Krieg verlassen hatte und wohl irgendwo in Österreich oder Deutschland weilte, und er erzählte ihr vom Tod seines Vaters, Ferenc Dušan, im Jahr 1910, und davon, dass seine Mutter, Zelma, seither regelmäßig in ein Wachstuchheft Verse und Gedanken schrieb, in das zuvor ihr verstorbener Mann geschrieben hatte. »Man muss sie einfach machen lassen«, sagte er dazu.
Schließlich sah er es auch als seine Pflicht an, seiner Nichte die politischen Verhältnisse näherzubringen. Er berichtete ihr, wie es damals, am 14. Dezember 1921, zur Volksabstimmung gekommen war, und vom überwältigenden Sieg der Ungaren, Sopron als eine Stadt Ungarns zu reklamieren, anstatt sie an Österreich zu verlieren. »Der Stimmberechtigte erhielt einen gelben Zettel, darauf stand Österreich,und einen blauen Zettel, darauf stand Ungarn. Damit ging man in die Kabine. Wenn man für Ungarn stimmen wollte, zerriss man den gelben Zettel in zwei Teile, legte die zerrissenen gelben Teile und den ganzen blauen Zettel zusammen in ein Couvert, klebte das Couvert zu und gab seine Stimme ab. Deshalb nennen wir sie jetzt wieder Sopron und nicht mehr Ödenburg, unsere schöne Stadt, auch wenn Ödenburg zur Hauptstadt des Burgenlandes hätte erhoben werden sollen: Unser Sopron gehört uns Ungaren. Am ersten Tag des Jahres 1922 fand die offizielle Übergabe der Stadt an Ungarn statt. Daraufhin erhielt die Stadt von der Nationalversammlung den Namen Civitas Fidelissima, die treueste Stadt.«
»Onkel Balin, erzähl mir, wieso du rechts nichts mehr sehen kannst.«
»Ah, das. Ich habe als zweijähriger Knabe mein rechtes Augenlicht verloren, weil ich so dumm war, mit einer Gabel einen Knoten im Schnürsenkel lösen zu wollen. Ich war ein ungeduldiges Kind. Heute weiß ich, man sollte nie unbedacht eine Verstrickung auftrennen wollen, dabei kommt meist nichts Gutes heraus.«
Ab und zu schlenderte Mondaine alleine die konzentrischen Ringe Soprons ab, arbeitete sich schrittweise von innen nach außen vor und wieder zurück. Ihr war, als nähme sie teil an einem epochalen Stufenanstieg. Der industrielle Aufschwung in Sopron war sichtbar wie das stete Flimmern in der Sommerluft. Hier gab es eine Seidenfabrik, eine Kammgarnfabrik, eine Tuch- und Teppichfabrik und eine Kleiderfabrik. Die Menschen fanden Arbeit in der Eisengießerei, in der Eisenwarenfabrik oder in der Soproner Bierbrauerei und der großen Malzfabrik. Der Bürgermeister, Mihály Thurner, tat alles dafür, seine Stadt nach dem Großen Krieg zu fördern, und jedes gerade Haus, jederaufrechte Bürger war ein Zeichen dafür, dass ihm dies auch gelang und dass sein Sopron auf gutem Boden stand, dass es gedieh.
»Ich werde in meinem Amt ausschließlich von den Interessen der Stadt und von der Gerechtigkeit geleitet. Ich werde alle religiösen und politischen Überzeugungen respektieren«, so sein Leitspruch.
Die Autarkie Soprons war nicht zu übersehen, und dass sich diese Stadt schon viel früher als unabhängig angesehen haben musste, davon zeugten unter anderem die vielen Sodbrunnen. Alles war hier so grundsolide, überlegte Mondaine, so charakterstark, und obgleich die Männer ihre Frauen hier mit Täubchen oder Häschen anredeten, so waren es doch die Frauen, diese
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