Die Ruhelosen
Italienisch, Französisch, Deutsch;
Repertoire – auswendig: alle Schlager ca. 300 Stück, Wiener, Ungarische, Rumänische und Zigeuner Musik usw.
Abel hatte sich für einen Zweifarbendruck, Hirschbraun auf Chamois, entschieden, wobei sein Portrait mit Fiedel, eine Fotografie, die noch aus Wien stammte, besonders gut zur Geltung kam.
Sie hatten noch keinen festen Namen, nannten sich immer wieder anders, so wie sie von Ort zu Ort wanderten, zigeunerten und tingelten, anspruchslos, was die Unterkunft betraf, und äußerst anspruchsvoll, was das Publikum anbelangte, und kamen überall gut an. Das Bieler Tagblatt notierte:
Gegenwärtig spielt zu Tanz und Unterhaltung die Kapelle Abel Ditrich, ein mit bewährten Kräften besetztes Orchester, das sowohl solistisch wie auch als Ensemble mit einem außerordentlich gediegenen und feinfühlig dargebotenen Repertoire aufwartet. Die Kapelle verzichtet in erfreulicher Weise auf allzu grelle Klangeffekte und hebt dagegen
die sehr stimmungsvolle, mit feineren Nuancen wechselnde Salon-Tanzmusik in den Vordergrund, die dem Bieler Publikum besonders angenehm zuspricht und auch dem Ohr des Nichttanzenden kein Greuel bedeutet. Das Orchester Abel Ditrich sichert sich damit die Sympathie des guten Publikums.
Und im Berner Bund stand eine Woche darauf zu lesen:
Ditrich im Bellevue-Palace: Ob man nun Motive hört aus dem Tiefland oder eine Rhapsodie von Liszt, alles ist künstlerisch interpretiert. Abel Ditrich, ein junger ausgezeichneter Violinist, spielt mit wundervollem Ton entzückende, selten gehörte Soli. Ganz besonders wirkt diese Kapelle abends, in der Bar, denn hier glaubt man sich einmal in Budapest, dann wieder beim Heurigen in Wien. Die unvergesslichen Weisen Meister Lehárs sind kaum verklungen, schon rauscht ein glutvoller argentinischer Tango vorüber, gefolgt von einem rassigen Rumba. Aus allem klingt Lebensfreude und Bejahung.
Schlagzeilen überall – und nur für ihn:
Abel, das Wunderkind! Seit seinem fünften Lebensjahr mit der Violine auf der Bühne!
Beherrschte schon als kleiner Knopf sämtliche Harmoniken und Flageoletten!
Keiner so wie er!
Seine Violine sagt immer wieder ja. Ja zum Leben! Ja! Ja! Ja!
Abel Ditrich fühlte in sich selbst keine Bejahung. Mit jeder Note, die er über seine Saiten schwang, spielte er gegen ein verzweifeltes inneres Nein an. Wie viel lieber wäre Abel Kaufmann geworden! Kaufmann, seinem Vater gleich, mit einer dicken Börse, die er zwischen den Fingern reiben könnte, wie gern hätte er es ihm gezeigt. Ihm, dem Vater, war der Absprung gelungen! Er war kein Tzigane mehr, er war Fabrikbesitzer in Lausanne.
Frühmorgens, wenn in Arosa, Davos, Gstaad oder auf irgendeiner Touristenalp die ersten Dämmerungsstreifen durch die Nacht griffen und die Gäste betrunken in Ledersesseln ihren Rausch ausschliefen oder zu zweit, zu dritt, zu vielt nach oben in den Zimmern verschwanden, saß er noch eine Weile alleine an der Bar. Anstelle eines eindrucksvollen Portemonnaies lediglich ein laues Glas Verveinetee in der Hand, einen Füllfederhalter in der anderen, vollführte er tollkühne Berechnungen für noch tollkühnere »Business«-Ideen, dachte an die Frau, nach der er sich am meisten sehnte, überlegte, wann er wohl wieder einen Besuch zu Hause und damit bei ihr machen dürfte, und dachte bald an nichts und gar nichts mehr, tat mit seinen Gefühlen schließlich das, was er mit seinen Gefühlen am besten konnte: Abel setzte Note an Note auf ein Blatt Papier: Er komponierte.
Nunzio schlägt die Türen zu
Küsnacht, 1935
»Nach über zehn Jahren, das gibt’s doch nicht!«
Nunzio legte zuerst einmal seinen weißen Kittel ab, in dem er eigentlich wie ein Arzt aussah, obwohl er ja wie alle anderen Maler auch eine zweiteilige Arbeitskleidung, Hose und Schlutte, hätte tragen können; Nunzio Senigaglia beharrte auf seinem Kittel und trug ihn wie einen Talar, bei Widerrede lächelte er nur still in sich hinein. Seine Frau Alda, mit dem kleinen Nunzio Amadeo am Rockzipfel, dem Säugling Carla im Arm und dem Kartoffelstampfer in der Hand, die Haare unfertig nach hinten geklammert, blieb dabei: »Das gibt es doch einfach nicht!«
Nunzio senior zog die schweren Arbeitsschuhe aus und schlüpfte in seine Schlappen. Ohne mit der Wimper zu zucken, ging er zuerst ins Badezimmer und wusch sich ausgiebig die Hände, während seine Frau schnaufte und kochte. Dann trat er in den Flur, bückte sich, um Nunzio junior in seine Arme klettern zu
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