Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
Vom Netzwerk:
seiner Kehle kratzte es, und eine Hustenerkrankung wäre nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Zuerst reinigte er die Saiten mit etwas Alkohol. Dann griff er zum Döslein mit dem Kolophonium, Liebenzeller Originalrezeptur. Er hatte über die Jahre schon die unterschiedlichsten Mischungen Metallkolophoniums ausprobiert, mit Gold, mit Silber, mit Kupfer, mit Meteoreisen, Zinn oder Pyrit, um auszutüfteln, wie er den Ton seines Instrumentes veredeln konnte, um ihm eine einzigartige Klarheit und Präzision zu verleihen. Dem Lärchenharz, das im Kolophonium verarbeitet war, war es zu verdanken, dass die Klangqualität eine weiche, warme war, bei aller Bestimmheit voll von Seele blieb, und genau das war es, was Abel so einzigartig machte: diese Melange von Härte und Weichheit. Diese Mischung aus Sentimentalität und Feuer, die durch seinen Bogen schwang. Dieses Savoir comment, das seinem ganzen Auftreten innewohnte.
    Mit einem weichen, trockenen Tuch wischte Abel über seine Geige und brachte den Lack zum Glänzen. Für Griffbrett und Korpus verwendete er zwei unterschiedliche Tüchlein,das eine weiß wie Schnee und ausgefranst, das andere mit einer Zickzackschere zugeschnitten. In Arosa hatte er sich mit Weinflaschenkorken eingedeckt. Seitdem er darauf gekommen war, dass er die Saiten mit Weinflaschenkorken abreiben konnte, um sie von bröckelndem Kolophonium zu befreien, hielt er stets Ausschau nach ihnen. Er fischte sie einzeln aus dem Strandgut der begüterten Klasse. Auf seinen nächtlichen Gängen durch leergefeierte Hotelsäle kamen ihn diese Korken wie Menetekel einer Gefahr an, die ihnen allen bevorstehen mochte.
    Daran dachte Abel, als er die erstklassige Behaarung seines Geigenbogens mit fachmännischem Blick überprüfte. Daran und an eine kleine, zarte, rosige Frau, über deren behaartes Dreieck er nur zu gerne auch seine Finger hätte gleiten lassen. Gerade heute. Gerade jetzt.

was man alles wegdenken kann
    Sopron/Miskolc, 1936
    Zuerst hatte er sie nach Sopron chauffiert. Bei den Verwandten sollte sie auf ihn warten und über die Schande nachdenken, die sie über die Familie brachte, wenn sie weiterhin mit diesem Idioten Ciccioriccio um Berns Häuser zog.
    Es war ihm immer auch unangenehm, fast peinlich, wenn er seine »Familie« in Ungarn besuchte, besonders seinem jüngeren Halbbruder Balin gegenüber fühlte er sich unbedeutend, so als stünde er beständig auf dem Prüfstand, er, der doch schon in Paris ein Geschäft geführt hatte! Er, der in der Schweizer Hauptstadt ganze drei Etagen sein eigen nannte. Aber dieser Balin in seiner ruhigen, wortlosen Art tat doch immer so, als sei er etwas Besseres, und das nur, weil er beim Vater aufgewachsen war. Nur, weil er von diesem selbst das Handwerk des Posticheurs hatte erlernen können, gerade so, als wäre er der Erstgeborene, der Stammhalter, einzig würdiger Nachfahr, gerade so, als mache er ihm, François, diesen Platz streitig, dabei war er das doch, der Erste, der Einzige, das Beste, was seinem verstorbenen Vater Ferenc Dušan von seiner ersten Frau Krisztyna damals noch geblieben war …
    Und nun wandelte da seines Vaters dritte Frau, Zelma Scheu, durch die Flure, verschattete mit ihrer breiten Gestalt jeden einzelnen Raum, den sie betrat; François konnte ihren Anblick nicht ausstehen. Denn ihn, François, den wahren Erstgeborenen, hatte man ja offensichtlich nicht für würdig gehalten, dazubehalten, ihn hatte man ja einfach weitergereicht, bis ins ferne Miskolc hinauf, zu Halbverwandten,zu solchen, die ihm nur mittelmäßige Kunst vermitteln konnten. Und hatte er denn nicht das einzig Richtige getan, das die Situation von ihm verlangte, als er abgewandert war, noch bevor er ausgewachsen war? Und hatte er dadurch nicht das Handwerk des Haarteilmachens zwar nur rudimentär erlernen können, dafür aber etwas viel Besseres für sich gefunden: den Handel? Zählte das etwa alles nichts, was er da für sich selber geschaffen hatte aus ganz und gar eigener Hand? Und war das etwa alles nicht von Wert? Belieferte nicht er genau solche wie sie mit unentbehrlichem und immer wieder neuestem Zubehör? Mit patentierten Metaöfelchen und Metabrenntabletten zum Erhitzen des Brenneisens? Und neuerdings mit Haarnetzen aus dem Fürstentum Liechtenstein und den modernsten Haartrocknern von Solis?
    In der Gegenwart seiner Halbgeschwister, seiner Neffen und Nichten stärkte sich François mit solchen und ähnlichen Gedanken das Rückgrat. Oder er spülte seinen Unmut

Weitere Kostenlose Bücher