Die Ruhelosen
einer hohen Hecke, in der die Spatzen schwatzten, und auf dem Kirschbaum unweit ihres Fensters tirilierte jeden Morgen eine Amsel. Wann immer ihre Mutter, ihr Vater des Morgens in ihr Zimmer traten, sie fanden Aude bereits wach im Bett. Ihr Blick hatte dann gleichsam etwas Verlorenes wie auch Glanzklares, Kiesel auf dem Grund eines Bergbaches. Man fühlte sich unweigerlich als Eindringling in ihre Privatsphäre, kein Wunder, war sie doch auch mit elf noch immer wortkarg – maulfaul, wie ein Arzt einmal gemeint hatte –, aber selbst in diesen Momenten der äußersten Versunkenkeit, der Konzentration auf eine Welt, die nur ihr zugänglich war, schien sie zufrieden und in sich ruhend.
Manchmal saß sie stundenlang auf dem Fenstersims, in der kalten Jahreszeit in eine Decke eingehüllt, und registrierte. Jeder Flügelschlag, jedes Schnäbeln, jedes Aufplustern des Gefieders war von Bedeutung für sie, von unermesslicher Tragweite und wie die Erfüllung eines tiefgehegten Traumes. Alles an ihr war dann sanft und weich und entspannt und feenhaft, ihre Wangen, ihre Wimpern, die Lider, der Blick, ihr gesamtes Wesen zart wie Morgentau.
Ganz anders die Härte im Blick, die Spannung über den Jochbeinknochen, die angestrengten Linien auf ihrer Stirn, wenn man versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Ihr Vater hatte sich fraglos damit arrangiert und ihr, nachdem seine Idee mit dem Schreiben- und Lesenlernen fruchtbargewesen war, weitere Wege in die Welt eröffnet. Bereits mit sechs bekam Aude ihren ersten Plattenspieler, auf dem sie am liebsten die Aufnahmen mit Vogelstimmen aus dem Radioarchiv abspielte, die ihr Abel besorgt hatte, und immer wieder gerne: Opapas Violinensoli. Nunzio war es auch, der ihr vertraute, als sie, noch nicht achtjährig, in stummem Trotz darauf bestand, alleine mit den Collies in den Wald gehen zu dürfen. Von Sonnenaufgang bis spät in den Nachmittag hinein.
Anders als Lorine, die stets eine Heerschar von Freundinnen um sich geringt hatte, blieb Aude am liebsten für sich und allein.
Nunzio hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, von seinen Auslandsreisen Geschenke mit nach Hause zu bringen. Für Emma die neuesten Frisurenmagazine ausländischer Kioske, für Lorine Laufschuhe, Sportbälle oder absurde Turngeräte, die sie nebst den roten Klemmstangen, die in jeden verfügbaren Türrahmen des Hauses im oberen und unteren Stock gespannt waren, benutzen konnte, und für Aude Bücher, nichts als Bücher.
Eines von Audes Lieblingsbüchern war ein mit farbigen Fotografien und Zeichnungen bebildertes, das er ihr einmal aus Deutschland mitgebracht hatte. Sein Umschlag war an zwei Stellen eingerissen und mit Scotch Tape wieder zusammengeklebt. Die Klebstreifen selbst waren gelblich verfärbt, und Audes Daumen spielten oft unbewusst damit, während sie sich in die Texte vertiefte. Der Titel – »Von Liebe und Ehe der Vögel« –, stand in gerundeten orangefarbenen Lettern zu lesen, und es schien, der größte der vier auf dem Umschlag abgebildeten Vögel pickte mit dem Schnabel nach dem Wort Liebe. Es war eine Trottellumme mit drei puscheligen Jungen, einem eigenen und zwei fremden. Schon damals hatte sie mit ihren Fingern weltvergessen Seite um Seite umgeblättert und war vonErstaunen in Verzückung zu Begeisterung geraten. Federn, Eier, Nester, Eheformen, alles war in Bildern erklärt. Auf einer Doppelseite stieß Aude auf bunte, kryptische Zeichnungen mit Linien und Schlenkern, deren Bedeutung sie erst mit dem Größerwerden erfasste, damals aber schon instinktiv mit den linierten und bemalten Blättern, die ihr Opapa stets um sich liegen hatte, in Verbindung brachte. Es waren schematisch dargestellte Klangspektrogramme von Amsel, Gartenbaumläufer, Waldbaumläufer, Kleiber und Buntspecht. Die Sprache der Vögel zu Papier gebracht.
In diesem Buch lernte Aude den Pfau kennen, Familie Blaufuß und den gar unfasslichen Paradiesvogel. In diesem Buch lag für Aude eine Welt der Schönheit und Folgerichtigkeit, Anfang und Ende, Vollständigkeit und Seelenheil. Wann immer sie darin forschte, war es, als ob sich ihr eigener Schicksalsraum um sie öffnete und sie hinausfliegen konnte, aus dem magischen Kreis entkam, der sie von anderen Menschen fernhielt und der als unüberwindbare Stummheit in ihren Ohren wie Tremoli rebellierte.
Die Welt, die sie umgab. Vieles daran versetzte Aude in Furcht und Schrecken. Da waren die Künstler und Theaterleute, welche ihre Mutter hin und wieder mit nach Hause
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