Die Ruhelosen
brachte. Späthippies, die Aude ungefragt zu sich auf den Schoß betteten, sie küssten und herzten, herbeiwinkten, nach ihr riefen, wenn sie sich ihnen entzog. Da waren die Berufskollegen ihres Vaters, Männer zumeist, die in wichtigen Worten die Welt erklärten. Und da waren die aufgeregten Freundinnen ihrer Schwester Lorine, die ihr einstmals Sprachrohr gewesen und die sich jetzt mehr und mehr für andere Sachen – für Jungen! – interessierte.
Nein, die Welt, die sie umgab, war eine verwirrende, fremde, hatte mit ihr nichts zu tun und nichts mit der Vollkommenheit ihrer gefiederten Gefährten.
Auch mit elf konnte sie, versonnen und wie der Welt abhandengekommen,stundenlang vor sich hinplappern in ihrem Zimmer, und sie brach in Tränen aus, wenn sie von der Mutter gebeten wurde, Brot einkaufen zu gehen. »Dann muss ich jemandem Grüezi sagen«, brach es aus dem Mädchen heraus, und ihr Gesicht verzog sich zu einer einzigen Leidensgrimasse. In solchen Momenten, sie spürte es ganz deutlich, konnte die Mutter nichts mit ihr anfangen. Sie war ein unverständliches Ärgernis, und wer weiß, ob das nicht einfach nur Faulheit war, wie hatte das der Kinderarzt genannt: maulfaul? Eines Tages müsste das Kind doch reden! Und was war schon dabei, einer Verkäuferin einen guten Tag zu wünschen, ein Wort mit einem Menschen zu wechseln! Wie konnte man nur so geizig sein mit seiner eigenen Sprache! Aber Emma überwand sich und schloss das Kind in ihre Arme, sagte, macht nichts, dann frag ich eben Lorine, und gab sie wieder ihrem eigenen Universum frei.
Manchmal saß Aude ganze Nachmittage lang in ihrem Zimmer und schnitt »Interviews« zusammen. Sie legte dazu eine Schallplatte auf und ließ eine ausgewählte Stelle laufen, die sie auf Kassette aufnahm. Nach wenigen Worten schon wechselte sie die eine Schallplatte gegen eine andere und machte dasselbe noch einmal, und so weiter. So entstanden Musikklangteppiche, Mosaike von gesungenen Worten, die, in einen neuen Zusammenhang gebracht, neuen Sinn ergaben. Eine neue Aussage. Ein Statement. Eine Erklärung, Mitteilung oder eben: Dialoge! Stimmen, die miteinander sprachen! Während dieser Arbeit, die sie äußerst konzentriert und in großer Ernsthaftigkeit verrichtete, plapperte sie leise vor sich hin, ließ lautmalerische Töne über ihre Zunge purzeln, begleitet von grotesken Grimassen, die sie nur für sich alleine schnitt. Aude teilte diese Kassettengespräche keinem mit. Sie plante sie, sie konzipierte und fabrizierte sie, aber danach, nach einmaligem Anhören, legte sie die Kassetten weg und hörte sie nie wieder.Emma wusste darum und ließ sie gewähren. Sie spürte intuitiv das Existentielle, das für Aude in dieser Tätigkeit lag: Es war ihr persönlicher Schatz.
Als Emma an diesem milden Abend des Herbstes 1979 vor Audes Zimmer das gemähte Gras zusammenrechte, hörte sie mit Erstaunen, wie Aude ihre Dialoge aus verschiedensprachigen Liedern bastelte. Sie erkannte Englisch, Französisch, Italienisch und Deutsch und eine Sprache, die irgendwie slawisch klang, die sie aber nicht sicher zuordnen konnte, und sie war über alle Maßen überrascht, als sie begriff, dass Aude die Bedeutung der einzelnen Phrasen verstand! Natürlich, Deutsch und Französisch waren die gängigen Sprachen in ihrem Umfeld, aber die Dialoge ergaben auch über diese Sprachgrenzen hinweg einen Sinn!
Emma wusste, dass in ihrer Familie so einige sprachbegabte Vorfahren die Ahnentafel zierten, aber dass ihre eigene störrische Tochter, dieses gedrungene, eng in sich verschachtelte Wesen mit dem schattigen Haar, Fremdsprachen verstehen könnte, darauf wäre sie nie gekommen. Sicher hatte es damit zu tun, dass sie alle Jahre im Sommer nach Brela in Jugoslawien in die Ferien fuhren. Vermutlich hatte sie dort manches aufgeschnappt. Aber dennoch. Sie würde Nunzio davon berichten gehen. Und während sich Emma wieder ihrem Rechen zuwandte, legte Aude sorgfältig eine neue Platte auf, die sie aus dem Stapel von Boney M., ABBA und Village People aus dem Zimmer ihrer Schwester herübergeschafft hatte, und gab sich ihrem Grammelot, der nur ihr vertrauten Spielsprache, hin.
Vibrationen
Küsnacht, 1984
Nie wieder reiten auf Großvatis Pantinen. Nie wieder lachen, wenn er Salami, Marmelade und Käse übereinander auf einer Brotschnitte auftürmte und gierig wie eine Schwangere die Zähne hineinschlug. Großvati war gestorben, bei einem Autounfall auf Teneriffa, der Kanarischen Insel, auf der Alda und
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