Die Ruhelosen
laut »Söll emal cho!«, als sie zusammen mit den Mädchen den großen Karton auf den Rücksitz quetschte.
»Nicht nur den Teleboy könnt ihr damit neu genießen, auch die ZDF-Hitparade! Was ihr wollt, in neuen bunten Farben!«
Als sie es endlich geschafft hatten, drückte sich Aude auf das schmale freie Plätzchen neben dem Fernseher, und Lorine schnallte sich auf dem Vordersitz den Gurt um. Zu guter Letzt sprang zwischen Lorines Beine auch noch Omamas Pudel, ein über alle Tage mürrisches schwarzgelocktes Weibchen mit dem unpassenden Namen Bonbon. Pudel waren in Mode, und Bonbon durfte sich der Öffentlichkeit nicht ohne Schleifchen zeigen. Mondaine wie vor allem auch Emma hielten seit jenen Welpentagen in Küsnacht permanent einen oder mehrere Hunde an der Leine und sich selbst damit im Gleichgewicht.
Der DAF bellte vertraut wie eine kleine Lokomotive. Aude dachte an das Märchen von Jim Knopf und seiner Lokomotive Emma, auch eine Geschichte, die sie im Fernsehengesehen hatte. Wie würde wohl die Augsburger Puppenkiste aussehen auf diesem nigelnagelneuen rundgewölbten Bildschirm? Jedes Mitglied der Familie Senigaglia hatte seine eigenen Sendungen, die es regelmäßig verfolgte. Lorine reklamierte neuerdings den Fernseher für sich und ihre Freundinnen, um »Alles klar« zu schauen, dabei kicherten sie und schwatzten, flüsterten sich Namen von Schulkameraden zu und verdrehten die Augen. Emma verpasste keinen einzigen »Concours Eurovision de la Chanson« und besetzte einmal jährlich nicht nur die Fernsehcouch, sondern auch die Telefonleitung, über die sie jedes der präsentierten Lieder mit ihrem Vater fachsimpelnd bewertete, verriss oder knapp für gut befand. Nunzio seinerseits schloss jeden Sonntagvormittag nachdrücklich die Wohnzimmertür, um nicht beim »Internationalen Frühschoppen« vom Geplapper der Kinder gestört zu werden. Wenn Lorine ihr Ohr an die Tür legte, hörte sie ihn Einwürfe machen, so, als ob er als unsichtbarer Gast zwischen den diskutierenden Journalisten säße.
Auch heute Vormittag würde Nunzio auf dem Bauch liegend, den Kopf in gut drei Meter Entfernung vom Bildschirm, das Kinn auf seine zusammengefalteten Hände gelegt, die rechte über der linken, seine liebste Sendung schauen. Keiner würde dann das Wort an ihn richten dürfen, es redeten dann nur wichtige Leute. Über wichtige Themen. Danach, freilich, würde man sich über alles austauschen können. Aber Emma fühlte sich nicht informiert genug, Lorine hüpfte lieber draußen im Garten umher und schlug Räder, und Aude, nun, Aude sprach ja ohnehin nicht, wenn sie nicht unbedingt musste.
Audes Beine waren ganz zappelig, ihre Knie stachen in das Rückenpolster von Omamas Sitz. Omama fragte: »Wollen wir etwas singen, Kinder?«
Sie hatte die Angewohnheit, längere Autofahrten mit Liedernzu füllen, die sie aus voller Brust schmetterte. Sie konnte italienische, französische, ungarische und deutsche Lieder zum Besten geben, und mit den Mädchen sang sie hin und wieder sogar schweizerdeutsches Gut, in ihrem herrlichen, alles verbreiternden Berner Dialekt.
Ihr liebstes Lied aber, und das war unbestritten, ging folgendermaßen:
Die Liebe ist ein Omnibus
holla hi holla ho
weil man immer warten muss
holla hia ho!
Kommt er endlich angewetzt
holla hi holla ho
ruft der Schaffner »Schon besetzt!«
holla hia ho!
Ach, wenn’s doch wäre
ach, wenn’s doch wäre
ach, wenn’s doch mein klein Liebster wär!
Und da rumpelt
und da humpelt
und da rumpelt mir mein Herz
vor lauter Lieb und Schmerz
vor lauter Lieb und Schmerz
Und so rumpelten und humpelten sie in einem knutschroten DAF, eine Großmutter und ihre beiden Enkeltöchter, ein vor sich hinknurrender Pudel und ein nigelnagelneuer Farbfernseher der Marke Wega – weißes Schalengehäuse mit Standfuß, um 180 Grad drehbar, 66 cm »Super Contrast«-Farbbildröhre, HiFi-Ton durch Super-Parallelton-Verfahrenund HiFi-Endstufe mit 10 Watt Sinus-Ausgangsleistung, eingebaute Zweiweg-Lautsprecher-Box und automatische Frequenzkontrolle, automatischer Sendersuchlauf und eine Speicherkapazität von sagenhaften 16 Sendern sowie: Fernbedienung, ebenfalls in Weiß, und automatische Fernseherabschaltung circa zwei Minuten nach Sendeschluss –, Lieder singend quer durch die Stadt und dann übers Land, dem Hause Senigaglia auf der Forch zu.
selektiver Mutismus
Forch, 1979
Den Vögeln zuzuhören war das Größte für sie. Audes Zimmer ging nach vorne hinaus zu
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