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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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Nunzio senior eine Ferienwohnung besaßen. Der Austin stand verstaubt unter einer Plastikplane hinter dem Haus neben dem Dorfbach. Die Farbe vertrocknete in den Aluminiumkübeln im Keller. Und alles, was Großmami geblieben war, war dieses Zittern, dieses leise Vibrieren unter ihren Füßen, wenn sie wieder einmal davon überzeugt war, das Haus hätte sich aus seinem Fundament gelöst und selbständig gemacht. Wenn sie wieder einmal an dem unsinnigen Glauben festhielt, es könnte jederzeit im nahen See versinken.

Tempelruhe
    Zürich, 1985
    Die Maske, das war Emmas Reich. Der Geruch nach Mastix, Aceton, Haar und auf ihren Heizstangen aufwärmenden Carmen Curls, vermischt mit dem Schweiß der Aufregung – eines jeden Künstlers persönlichem Lampenfiebergeruch –, war wie ein Federbett für Emma, ein ausgepolsterter Horst, in dem sie sich wohl und sicher fühlte.
    Ihr Arbeitsplatz war der links vorne. Sie verstaute ihre Einkaufstasche mit der neuen olivgrünen Hundeleine, passend für Lara, die betagte Colliehündin, die zu Hause auf sie wartete, und begann mit ihrer Arbeit. Sie überzog die Kopfstütze des Frisierstuhls mit Seidenpapier, holte ihre Schminkpaletten, die Puderdosen und -quasten, die Schwämmchen und Haarspangen aus den Schubladen ihres Rollcontainers und schaute hinüber zur Fotowand. Diese Schönheitsgalerie mit den Bildern der verschiedenen Opernsänger und -sängerinnen war ihr Heiliger Schrein. Von Edita Gruberowá, Ann Murray, Agnes Baltsa, Inga Nielsen, Yoko Watanabe, aus der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik, aus Irland, Griechenland, Dänemark, Japan, sowie vom Deutschen Hermann Prey hatte sie Autogramme geschenkt bekommen und von José Carreras, dem Katalanen, sogar zwei mit verspielten Kreuzchen darauf. Emma überlegte, ob sie noch etwas vorarbeiten sollte. Der Kostümbildner hatte ihr gestern die Figurinen ausgehändigt, mit Wasserfarbe colorierte Skizzen auf A3, die seine Vorstellung der Perücken für das nächste Stück vermittelten. Diesmal sollten alle blond werden, darüber hattesie bei der Sitzung noch gelacht, alle blond, wieso nur, aber verspielt, wie sie war, würde sie sicher noch das eine oder andere Löckchen drehen können. Es gelang ihr immer, den Kreationen etwas Eigenes unterzumischen, einen persönlichen »touch«, ein kleines Etwas, über dessen Herkunft, Geburt und Existenz nur sie Bescheid wusste.
    Sie blätterte die Zeichnungen durch, Rokoko. Geschnörkel und Geblüm.
    Allmählich kamen auch ihre Kolleginnen, die festangestellten Maskenbildnerinnen, die die Solistinnen in ihren Garderoben betreuten, und die Aushilfen, solche wie sie, die halfen, den Chor, die Statisterie herzurichten. Aus gewöhnlichen Straßenmenschen Geschöpfe der Bühne zu machen. Verwandlung, Transformation allein durch das Geschick ihrer Hände.
    Ihr Engagement am Opernhaus verdankte sie dem Unglück einer anderen. Eine Berufskollegin, eine Gelernte sogar, die ihre Lehre in den fünfziger Jahren in Augsburg absolviert hatte und die mit ihrem Lehrmeister doch tatsächlich noch zweimal monatlich der alten Fürstin Fugger die Haare waschen, ondulieren und zu einem hübschen Knoten frisieren ging, war an einer Haarallergie erkrankt. Zuerst hatte sie noch versucht, mittels Mundschutz und chirurgischer Gummihandschuhe dem Übel auszuweichen, aber als sie bemerkt hatte, dass sie sich damit zum Gespött der anderen machte, vornehmlich der männlichen Maskenbildner, die ein Stockwerk weiter oben ihr Handwerk ausübten, und es mit der Zeit sogar auch als erheiterndes Gerücht in die Wäscherei, das Stofflager, den Kostümfundus, die Tapeziererei gelangte, wollte sie ihrem Witzfigurendasein ein Ende bereiten und nahm sich eine Auszeit. In diese Lücke war dann eben Emma gesprungen, und hier saß sie nun und flocht Haarkrepp zu einer schicken Afrokrause. Sie liebte diese stille, konzentrierte, fastkontemplative Stimmung – ein Wort, das ihr Nunzio geschenkt hatte –, die vor den abendlichen Aufführungen durch die Gänge geisterte. Wie ein gnädiger Virus, der alle und alles mit derselben Krankheit infizierte: als kleines Teilchen einem großen Ganzen dienen zu wollen, um sich in Zufriedenheit aufzulösen.
    An den Tagen, an denen Emma bereits um acht oder neun Uhr an ihrem Arbeitsplatz erschien und die in der Gießerei gefertigten Drahtaufsätze für üppige Frisurentürme mit Haar bestückte, Kostümbildnerphantasien zur Realitätwerdung verhalf, konnte sie ihre Gedanken besonders gut sammeln

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