Die Ruhelosen
und jeden einzeln betrachten. Während ihre Finger Haare aus der Kardätsche zogen, zogen auch die Szenen ihres Lebens vor ihrem inneren Auge vorbei. Erinnerungen an ein Abendessen, das Nunzio, der Hobbykoch, neulich bereitet hatte, wie Erinnerungen an das erste Pfingstfest auf der Zürcher Allmend, zu dem sie ihren Töchtern die Gesichter mit Theaterschminke aufgefröhlicht hatte und wo sie das erste Mal in ihrem Leben fremde nackte Männer und Frauen in einem Fluss, der Sihl, baden sah. Oder als sie in Zürich unvermittelt in eine Demo hineingeraten war, die von Polizisten niedergeknüppelt wurde. Beim gemächlichen Vorüberziehenlassen dieser inneren Bilder erst spürte sie, wann und wo sie sich frei fühlte und wann und wo gefangen. Die Liebe wie die Wut, die sie ihren Eltern gegenüber empfand, ein Auf und Ab wie auf einer Wippe, das Vor und Zurück, das sie mit ihren Gefühlen dem eigenen Ehemann gegenüber erlebte, und schließlich die Tatsache, dass sie ihre Kinder manchmal an sich band und festhielt, auch gegen deren Willen, nur um sie an einem anderen Tag wieder weit von sich zu stoßen, zuweilen gerade dann, wenn diese Nähe besonders nötig gehabt hätten oder Zugehörigkeit, alles strömte ihr ungehindert durch den Kopf wie ein Bühnenstück, das sie von sicheremLogenplatz aus verfolgte. Es war ihre Art, zu lernen, ihre Art, sich im Leben zurechtzufinden. Ihre Art der Versöhnung mit sich selbst und mit der Welt.
Emma hatte sich damit abgefunden, dass ihre Spontaneität eine gebremste war, hatte sich in ihr Schicksal eingefunden, dass sie alle Empfindungen, die ihre Adern fluteten, zuerst prüfen musste, bevor sie sich ihrer sicher war. Und eben genau hier, am Opernhaus in Zürich, gelang ihr diese Katharsis – ein weiteres geschenktes Wort – am besten. Hier konnte sie den Rahmen des Familienbildes zurechtrücken, den sie als so viel zu groß für sich empfand, in dem sie die Tage der Woche über, an denen sie nicht arbeitete, ungehalten hin und her rutschte und aus dem sie beständig herauszufallen drohte.
Anderthalb Stunden vor Vorstellungsbeginn warf Emma erfreut beide Hände in die Luft und frohlockte: »Ich krieg Arbeit!« Eine junge dunkelhaarige Frau, Statistin, noch in ihren Privatkleidern, trat in die Maske und ließ sich gerne auf Emmas einladende Geste hin in den Stuhl plumpsen.
»Aah …«, machte sie und lachte Emma durch den Spiegel an.
»Hallo, Julia«, machte Emma und fuhr mit ihrem Frisierkamm auch schon durch die Haare der Frau. Ihr Blick fiel auf die linke Hand der Statistin, die in eine Schiene geschnallt war.
»Was hast du da gemacht?«
»Nichts. Ich hab ein Baby bekommen, sieben Kilo mittlerweile! Und das da ist eine Sehnenscheidenentzündung.«
»Ui! Vom Hochheben und Windelwechseln?«
»Ja, sie wog vier Kilo und sechshundertfünfzig Gramm bei ihrer Geburt.«
Emma machte noch einmal uiui und begann damit, einzelne Haarsträhnen um den Finger zu wickeln und in Schneckenform eng an Julias Kopf festzuklämmerln.
»Ich war so stolz im Spital, sie war so groß und rosig …«
»Mir gings grad ebenso mit meinen.«
»Sie hatte schon richtige Bäckchen, und alles war so perfekt an ihr …«
»Mich hättest du sehen sollen, ich war kugelrund. Mich hätte man rollen können!«
Julia lächelte freundlich zurück. Auf ihrem Kopf entstand ein fossiles Muster.
»Ist sie denn wenigstens brav?«
»Ganz brav. Sie schläft aber noch nicht richtig durch in der Nacht.«
Emma konnte nichts erwidern, weil sie die Haarspangen mit den Lippen festhielt.
»Aber sonst ist sie wirklich ein Schatz, unser Sonnenschein.«
Mit flinken Bewegungen, präzis und effizient, plättelte Emma eine weitere Locke an Julias Kopf fest, dann fragte sie: »Wie heißt sie denn?«
»Claudia.«
»Oh, das ist jetzt aber einmal schön, das gefällt mir. Ist wieder mal etwas ganz Normales.«
Von ihren Berufskolleginnen hörte man das Ziehen der Haare durchs Netz als langes
Ssss
und dann das aufklopfende
Tack
der Knüpfnadel, wenn sie mit dem Holzkopf in Berührung kam.
Ssss-tack, ssss-tack
. Ab und zu, selten, passierte es, dass jemand mit der Knüpfnadel ausrutschte und sich selber stach. Einmal hatte Emma die Nadel sogar in ihren eigenen Oberschenkel gestoßen. Das war, weil sie unkonzentriert gearbeitete hatte und zu sehr in einem Ärger über ihre Eltern gefangen war. Weil sie darüber nachgedacht hatte, ob bei mehr Fürsorge – mittels Förderung anstelle von Zurechtweisung – aus ihr nicht doch eine
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