Die Ruhelosen
es ein bisschen lauter, hektischer. Schuhsohlen klackten auf dem Boden, irgendjemand tanzte. Emma befestigte eine blonde Perücke am Perückenband der Statistin und ging daran, ihr die Lippen auszupinseln.
»Blond steht dir gut.«
»Danke, find ich auch.«
Irgendetwas hatte sich im Tüll festgehakelt, dort, wo der feine Haaransatz geknüpft war. »Warte, ich helf dir.«
Mit dem Mastixpinsel strich Emma danach sanft über die Ansätze, um sie an der Stirn, bei den Schläfen festzukleben. »Okay, ich glaube, wir haben’s. Die Nächste, bitte!«
Die Stimmen blieben verhalten, gedämpft, selbst als die Solistin ihr Einsingen beendet hatte. Nur als sich die Chordamen im Eingang zusammenfanden, schwoll der Pegel noch einmal an, ein fideles Geschnatter, munter, heiter, gut aufgelegt.
Eine Statistin fand ihre Perücke nicht. »Geh doch mal draußen fragen.«
Der Inspizient rief durch den Lautsprecher ein: »Guten Abend, meine Damen und Herren, es ist neunzehn Uhr dreißig. In dreißig Minuten beginnt Rigoletto, cominciamo fra trenta minuti.«
Vor Emma saß nun eine gedrungene Schwarzhaarige, die sie mit ihrer Figur fast ein bisschen an Aude erinnerte. Bullig, mit einer Frisur wie Mireille Mathieu, haarliniengenau über die Brauen gezogen.
»Welche Perücke?«
»Ich habe die längste, die mit den Locken bis an den Po hinunter, die rote dort.«
»Ah, sie bescheißt mit ihren Haaren.« Eine zweite Statistin lachte.
»Ich war ja auch fünf Jahre lang die Hässlichste, jetzt darf ich fünf Jahre lang die Schönste sein«, gab diese grinsend zurück.
»Hältst du mal den Tüll vorne fest, dann zieh ich sie dir über den Kopf.« Emma hatte den Kamm in ihre Hosentasche gesteckt und ging nun daran, die Locken über den Rücken der Statistin zu drapieren. »Sitzt sie gut?«
»Bestens, danke.«
»Wie kommst du eigentlich zu dieser Frisur?«
»Was meinst du?«
»Wie Mireille Mathieu.«
»Kenn ich nicht. Wer ist das?«
»Oh? Kennst du nicht? Wie alt bist du denn?« Beide lachten. »Mireille Mathieu ist eine französische Schlagersängerin.«
»Ah, Schlager. Ist nicht so mein Metier.«
»Was hörst du denn so?«
»Jermaine Jackson und Pia Zadora. Prince, George Michael und die Miami Sound Machine.«
Emma lächelte. »Tja.«
Als der Inspizient zum zweiten Mal einrief: »Die Vorstellung beginnt in fünfzehn Minuten, quindici minuti!«, hatte Emma bereits elf Statistinnen hergerichtet. Ihr Blick ging zur Türe, wo noch immer vier oder fünf junge Frauen standen, die Perücke auf den Holzkopf brav vor die Brust gedrückt. Emma fühlte sich schon viel wohler, gefasster, so als ob die Leisten des Bilderrahmens an sie herangerückt wären und ihr den ersehnten Halt gäben. Als ob sie tatsächlich im Bilde war und die Welt um sich herum verstand. Eine der Statistinnen drängte sich auf den freigegebenen Stuhl, und Emma sagte: »Es ist ja noch Zeit.« Der Kammstiel teilte die Haare. »Wir haben noch ausreichend Zeit.«
einer, der kommt, und einer, der geht
Schweiz, 1987–1988
Und dann war etwas passiert, mit dem niemand gerechnet hatte. Aude war aus den Ferien schwanger heimgekommen. Ausgerechnet Aude. Die stille Aude. Hatte sich fern von zu Hause mit irgendeinem Mann eingelassen, stand erst wieder vor der Haustüre, als es zu spät war. Stur wie ein Ochse, hatte Emma gesagt und sie in ihre Arme geschlossen. Nunzio hatte mit den Schultern gezuckt.
Aude war, anstatt mit den anderen auf Maturareise zu gehen, abgehauen und an die Ostsee getrampt, Polen, der Ostblock, ausgerechnet. Emma verlor fast den Verstand darüber, als Nunzio das Thermopapier des Fax unter ihren Augen aufrollte und die übereilten Worte vorlas, die Aude ihnen beiden geschrieben hatte. Eine Blauracke, ein Dreizehenspecht, ein Schreiadler und ein Zwergschnäpper spielten die Hauptrolle in einem Stück, für das Emma so überhaupt gar kein Verständnis aufbringen konnte und zu dessen nicht autorisierter Uraufführung Aude Hunderte von Kilometern entfernt von zu Hause gereist war. Was wollte ihre Tochter alleine bei diesen, wie nannte sie sie auf Zeile sieben: Sängern und Klägern der Białowieżaer Heide?
Erst elf Wochen später war sie zurückgekehrt, noch stiller als sonst und mit dem festen Willen, Biologie zu studieren. Die Vögel hatten es ihr angetan, Ornithologin wollte sie werden. Über den Mann, mit dem sie ganz ohne Zweifel zusammen gewesen sein musste, sprach sie nie. Und warum es ausgerechnet Ornithologie sein musste, auch nicht. Jeder
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