Die Ruhelosen
wusste doch, dass das eine Männerdomäne war, eine, indie sich nur selten eine Frau verirrte. Erklären ließ sich das nicht, und aufhalten sowieso nicht.
»Dafür haben wir unsere Töchter frei erzogen, Emma. Das auch, das war ein Grund. Seien wir doch einfach stolz auf sie.«
»Aber sie ist schwanger!«
Die beiden bewohnten noch immer das große Haus auf der Forch. Lorine war mittlerweile ausgezogen und lebte mit Jetmir Nevzati zusammen, einem Mann aus dem umstrittenen Gebiet des Kosovo. Sie war Bewegungspädagogin geworden, eine, die den Menschen half, den eigenen Körper besser zu verstehen und sinnvoll zu nutzen. Ihre bevorzugte Heilmethode war die Bewegungslehre von Moishé Feldenkrais, einem ukrainischen Juden. Lorine konnte gar nicht genug davon bekommen, von ihrem großen Meister zu sprechen, und sie hatte in ihrem Partner einen geduldigen Zuhörer gefunden.
Emma hatte gehofft, dass wenigstens Aude noch eine Weile bei ihnen wohnen bleiben würde. Ihr Verschwinden so kurz nach der Matura, die sie nur dank der schriftlichen Arbeiten überhaupt bestanden hatte, hatte ihr einen argen Stoß versetzt. Im Opernhaus wurde sie schnell ungehalten, und ab und zu flossen die Tränen. Emma war denn auch beides: überglücklich, als sie ihre Tochter wieder in den Armen halten konnte, und im selben Augenblick gewahr der ungeheuren Verletzung, der Enttäuschung, die sie von ihrem unangemeldeten Verschwinden davongetragen hatte. Und dem Tabu dieser nicht beredbaren Schwangerschaft.
Sie hatte Aude an diesem Nachmittag der Rückkehr lange angeschaut, wie sie auf dem Sofa in der Stube saß, dort, wo ihr Vater früher sonntags ferngesehen hatte, die Beine angewinkelt auf den Clubtisch gestützt, die Knöchel parallel, ein Buch in den Händen, das sie schon seit frühesten Kindheitstagen mit sich herumschleppte. Aude vertiefte sich indieses Buch mit der Muße eines Menschen, der nie etwas anderes getan hatte und nie etwas anderes tun würde. Vögel, erkannte Emma auf dem Umschlag, Vögel, was denn sonst.
Audes Haare waren noch immer von diesem stumpfen Braun, das keinen hinter dem Ofen hervorlocken würde, ihre Nägel kurz gebissen. Die Jeans ausgefranst und verwaschen, und dann dieses schluttige Hemd über ihrem Bauch. Dem Bauch, der nun bald wachsen würde. Emma seufzte. »Willst du eine warme Milch? Einen Saft? Wir haben frische Orangen …«
Aude schaute langsam auf und suchte etwas in den Augen ihrer Mutter. Es dauerte einen kleinen Moment, dann schien es, als käme ein Erkennen über sie, und sie antwortete: Nein, ich bin okay.
Okay. Vielleicht würde sie ja doch bleiben. Zumindest, bis das Kind da wäre.
Aber Aude hatte andere Pläne. Pläne, die sie nie mit jemandem besprach. Pläne, zu deren Ausführung sie niemanden befragte. Während ihrer ganzen Kindheit, ihrer ganzen Jugendzeit nicht. Und so dauerte es nicht lange, bis sie ihre Sachen packte und in ein Heim für alleinerziehende Mütter zog. Nicht weit entfernt, eine knappe halbe Stunde, in Zürich.
Emma besuchte sie dort nie. Sie brachte es nicht über sich. Die Themen Sex und Schwangerschaft und Geburt waren für sie mit Furcht und einem Schrecken belegt, über den sie nicht sprechen konnte. Tief drin in Emma war da noch immer die Erinnerung an einen einsamen, kleidlosen Gang durch ein Knabenspalier, Nacktheit verknüpft mit Scham, und die sichere Gewissheit, dass alles, was mit Jungs Spaß machte, verboten war. Hatte ihre Tochter Spaß gehabt? Konnte sie das überhaupt? Man sah Aude so selten lachen.
Auch nach der Niederkunft, die eine einsame gewesen war, so ohne jede Hand zum Halten außer der einer Hebamme, kam Aude nur gelegentlich bei den Eltern vorbei, höchstens einmal im Monat. Den schwarzhaarigen Aurelio im Arm, still, aber etwas Weiches, Warmes ging nun von ihr aus, und Emma war schließlich wieder beruhigt. Dem Enkel würde es an nichts fehlen. Obwohl Aude noch immer in diesem Heim mit nichts als Babysachen und Büchern fürs Studium wohnte.
Hätte man Aude dazu befragt, ihre Erinnerung an diese erste Zeit mit Kind wäre eine andere gewesen. Dass sie dieses Kind behalten würde, war für sie nie eine Frage gewesen. Von dem Moment an, als sie bemerkt hatte, dass etwas anders war in ihrem Körper, wusste sie es schon. Schwanger. Das war eine Tatsache, ein biologischer Zustand. Ein Ist, aus dem niemand ein Gewese zu machen hatte. Sie trug dann diese Schwangerschaft auch wie das Allernatürlichste der Welt, befragte kaum jemanden, horchte
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