Die Ruhelosen
passable Sängerin hätte werden können. Oder sogar ein Star. Mit eigenen Autogrammkarten, auf die sie für andereLeute Sternchen malte. Sie hatte dann die Nadel schnell wieder herausgezogen und weitergemacht.
»Sag mal, hat jemand von euch größere Wimpern? Petra hat mir so kleine gegeben.«
»Hier, Emma, nimm die hier von mir!«
»Danke.«
Emma schminkte Wangen, Hals und Stirn der Statistin. Vom Flur hallte gebrochenes Deutsch durch die Gänge, ein Techniker rief nach dem Requisiteur, Schritte purzelten die Treppe hinab. Dann wieder ssss-tack, ssss-tack, ssss-tack.
»Was hast du für eine Perücke, Julia?«
»Die rote dort, die mit den zwei Hörnchen.«
»Ah, ja.«
Emma fuhr ihr mit dem Pinsel die Augenbrauen nach. Mit gelegentlichen Kontrollblicken in den Spiegel versicherte sie sich der Richtigkeit ihres Werks. Dann nahm sie die Schminkpalette mit den zweiundzwanzig Farbfeldern zur Hand. »Geht schon zu Ende, mein Weiß.«
»Hmm.«
»Hat es heute draußen eigentlich schon geschneit?«
»Nein. Aber es ist wieder kühler geworden.«
Ssss-tack, ssss-tack.
Vom Flur kamen weitere Statistinnen herein, platzierten sich je vor einer Maskenbildnerin in den Drehsessel und warteten darauf, dass ihr Gesicht zu einer Theatermaske wurde. Einzelne, für die grad kein Stuhl frei war, drängten sich am Eingang zusammen. Sie alle trugen weiße Überwürfe aus Baumwolle, Leinen, Frottee, um ihre eigenen Kleider oder die Kostüme darunter nicht zu beschädigen.
Emma strich sich ihre groben Locken aus dem Gesicht und zog Julia ein breites schwarzes Band über Kopf und Haaransatz. »Ist es dir unbequem, das Band?«
»Nein, es hat nur grad gejuckt.«
»Geht’s vom Zug her, ist es nicht zu fest?«
»Passt schon.«
Eine andere Maskenbildnerin wandte sich zu Emma um. »Bist du morgen Abend auch da?«
»Nein, morgen bin ich zu Hause. Hausfrau.«
Julia strahlte. »Mein Mann ist mit dem Kind zu Hause!«
»Meinst du, meiner hätte das gemacht? Ha, früher, da war das schon ganz anders. Ihr jungen Frauen von heute habt mehr Glück. Glück mit euren Männern.«
»Bei uns ist alles neutral. Wir haben auch alles in neutralen Farben angeschafft, kein Rosa und kein Hellblau, unsere Claudia trägt rot und orange und violett und braun.«
»Ja«, seufzte Emma, »da hat sich schon einiges geändert. So, bist fertig!«
Ein kurzer Blick in den Spiegel, und Julia gab ihren Stuhl für die nächste Statistin frei.
Aus dem Einsingzimmer vernahm man nun die Stimme der Solistin. Emma hatte den Korrepetitor gestern schimpfen gehört, dies war nun das Ergebnis.
»Willst du gleich zu mir kommen?« Emma winkte die Nächste zu sich.
»Fliegender Wechsel.«
»Ja, fliegender Wechsel, du bist die, der ich die dunkle Banane schminken muss, stimmt’s?«
»Ja, meine Augen werden ganz stark hervorgehoben. Letztes Mal haben wir den sepiabraunen Eyeliner genommen, ist ganz gut herausgekommen.«
Emma richtete den Kopf der Statistin. »Ein bisschen grade bitte, bist immer ein bisschen schief mit dem Kopf.«
»’tschuldigung.«
Emma schneckelte die Haare in Rekordzeit. Ihre Finger arbeiteten blind und sehr präzise. Mit einem Ohr hörte sie ihren Kolleginnen zu, die über die Idee eines Politikers diskutierten, dass Stadttaxis neuerdings Lichtverschmutzungsgebührenzu zahlen hätten. »Das kann doch nicht wahr sein! Womit will Zürich denn noch alles Geld verdienen?«
»Finanzstadt halt.«
»Wo der reiche Klüngel lebt.«
»Ja, glaubst du das denn, oder ist das eine Ente?«
»Weiß ich doch nicht. Ich bin heute mit dem Taxi hergefahren, du glaubst ja nicht, wie der sich über diesen Artikel aufgeregt hat.«
»Ein Schweizer?«
»Nein, irgendwas Afrikanisches, Tunesier. Oder Marokkaner vielleicht.«
»Tja, aber man kann auch nicht immer alles glauben, was geschrieben steht. Oder weißt du etwas darüber, Emma, dein Mann ist doch Journalist?«
Nein, Emma wusste nichts darüber. Ihr Mann schrieb auch nicht für Boulevardblätter, Schießbuden- und Revolverblätter. Sie richtete mit einem schmalen Bürsteli die Augenbrauen der Statistin aus. Dann strich sie die Wimpern mit Wimpernkleber ein und tupfte die falschen Wimpern auf den Lidern fest. »Schaust du mal, ob ich dich nicht zugeklebt habe?«
»Perfekt, wie immer bei dir.«
»Oh, danke.« Sie lachte und richtete ihr den Kopf vor dem Spiegel wieder aus. »So, schminkst du dir gleich mal die Wimpern selber?«, und die Statistin nahm das Mascarabürstchen entgegen. Vom Flur her wurde
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