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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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darum soherzlich wenig, dass sie bei den ornithologischen Vorlesungen oft die einzige Frau im Hörsaal war. Sie war es schlicht von Kindsbeinen an gewohnt, ein Sonderfall zu sein – und vermutete in diesem Anderssein sich selbst.
    Bedrohlich empfand sie ihre Andersartigkeit lediglich bei gesellschaftlichen Anlässen, denen sie partout nicht ausweichen konnte. Sie hatte sich dafür ein ganz eigenes Verhaltensrepertoire zulegen müssen, da das mit der Sprache nicht so gut klappte. Und dabei hatte sie gelernt, sich auf ihr Gehör und die feinen Nuancen, die es ihr vermittelte, zu verlassen. Aude konnte in einen Raum eintreten, der bis in die hintersten Winkel angefüllt war mit Menschen, die miteinander sprachen und lachten und plauderten und schwatzten, die miteinander über die Worte, die sie hin und her warfen, in Verbindung traten und die diese Verbindungen auflösten, indem sie sich keine Worte schuldig blieben, und sie konnte in diesem Raum Beziehungsgeflechte, Antriebe und Blockaden ausmachen, ohne selbst einen Laut über ihren Kehlkopf wandern lassen zu müssen. Nur im Belauschen der vorherrschenden Klangschichten konnte sie sich ein ganzes Arsenal von Wissenseinheiten aufbauen, die mehr mit den Worten zu tun hatten, die nicht gesagt, nicht ausgedrückt worden waren, als mit denen, die auf den Zeilen der Sätze zwischen den Menschen hin und her tanzten.
    So näherte sie sich Menschen – über das Gehör. Horchend, aufnehmend, innehaltend, stumm, von den meisten unbemerkt. Und wenn dann einmal jemand an sie herantrat, um doch ihre Bekanntschaft zu machen, um sich vorzustellen und hallo zu sagen, stand sie mit diesem schon längst in Kontakt. Hatte begriffen, wovor er Angst hatte und was ihn abschreckte, und hatte ein genaues Bild davon, wohin ihn seine Sehnsucht zog. Aber obgleich sie sich dadurch einen Vorteil erarbeitete, verstand sie diesen doch nicht für sich zu nutzen.
    Ihre Angst vor dem Reden. Sie erlebte sie gleichsam wie jemand, der unter dem Tourette-Syndrom litt. Die Furcht, etwas Unpassendes von sich zu geben, das Falsche zu sagen oder das Richtige im falschen Moment. Ein Gefühl wie Ersticken an sich selbst.
     
    Aurelio verstand seine Mum auch ohne lange Sätze. Wenn sie alleine waren, ging sie ihm zuliebe mit ihm Bilderbücher durch, sang kleine ungarische Verslein, deren Klang sie aus Mondaines Liedgut im Ohr hatte, oder summte ihn in den Schlaf. Sie wusste, dass sie ihn nicht zu ihrem neuen Sprachrohr machen durfte, und bemühte sich auch redlich darum, wenigstens das Mindeste mit Menschen zu sprechen in seiner Gegenwart. Beim Einkauf zum Beispiel, in einem Park, wann immer sich eine Gelegenheit bot, die ungefährlich schien und bei der sie sich ausprobieren konnte. Aurelio sollte ungehindert sprechen lernen, so viel war ihr klar. Bestimmt hatten ihre Eltern auch alles mit ihr versucht, sie wusste ja selbst nicht, warum sie so stumm war. Aber, so hatte ihr einst Großvati gesagt: »Die größte Tragödie birgt oft auch das größte Glück«, und ihre Wortkargheit hatte ihre Eltern darauf aufmerksam gemacht, dass Aude ganz hervorragend war im Erkennen von Vogelstimmen. Wenn sie sich recht erinnerte, hatten sogar genau deshalb ihr Vater und ab und zu auch Abel Schallplatten mit den Vogelstimmen der Schweiz für sie mit nach Hause gebracht. Mittlerweile lag das Jahre zurück, aber recht hatte er gehabt, Nunzio Senigaglia senior, ihr Großvati, in den Vogelstimmen lag ihr größtes Glück.
     
    »Sie ist drüben im ›Schiff‹ am Serviettenfalten«, antwortete Opapa, als sie ihn bei einem spontanen Besuch in Pfäffikon im Kanton Schwyz nach Omama fragte.
    »Im Restaurant ›Schiff‹?«
    »Ja.«
    »Warum faltet sie Servietten?«
    »Ah, was weiß ich! Es erinnert sie halt an ihre Kinderzeit, an ihre Jugend.«
    »Wieso?«
    »Ihre Zeit in den Grand Hotels der Metropolen dieser Welt. Ihre Zeit auf den Schlössern und Gutshäusern. Weißt du das denn nicht?«
    »Was weiß ich nicht?« Aude bettete Aurelio weicher in ihren Arm, er schlief.
    »Deine Omama hat doch ihre halbe Kindheit auf irgendwelchen ungarischen Schlössern verbracht.«
    »Mit Serviettenfalten?«
    Opapa starrte seine Enkelin entgeistert an. Dann seufzte er. Vorsichtig fasste er seine Geige am Hals und setzte sich Aude vis-à-vis in seinen Ohrensessel, den Bogen lässig in der anderen Hand auf seinem Oberschenkel ruhend.
    Hier gehörte er hin. Wann immer er nicht in seinem Studio war und übte, traf man ihn in genau diesem Sessel,

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