Die Ruhelosen
still in sich hinein und lernte.
Bei der Geburt hätte sie gerne ihre Schwester an ihrer Seite gehabt. Aber dann wäre die Mutter bestimmt auch dazugekommen, und die hätte sicher geweint oder, noch schlimmer: das Weinen zurückgehalten, nein, das wollte sie nicht, das hätte sie nicht ertragen.
Innert fünf Stunden war das Kind dann in die Welt geboren. Ein gesunder langgliedriger Junge mit pechschwarzem Haar. Man hatte ihn ihr an die Brust gelegt, und zusammen mit den ersten Sonnenstrahlen dieses Morgens hatte er zaghaft und doch beherzt ihren Körper berührt, und da war Aude dieser Name zugeflogen, Aurelio, der Goldene.
Wenn sie alleine waren, nannte sie ihn Aurin, und er gewöhnte sich an diese beiden Ansprachen, als wäre es das Allerselbstverständlichste, mit der Mutter ein Geheimnis zu teilen.
Als sie aus dem Heim auszogen, war Aude bereits fest in ihr Studium involviert. Nach langem Dafürreden ihres Vaters hatte sie nachgegeben und war mit wenig Sack und Pack, dafür mit umso mehr Büchern, in die Dreizimmerwohnung an der Dorfstraße in Küsnacht umgesiedelt, wo sie einen Stock über ihrer Großmutter die Wohnung mit einer jungen Inderin, Sarla, aus der Kaschmir-Region teilte, ihrerseits eine Studentin am C. G. Jung Institut. Zusammen meisterten die zwei Studentinnen den Haushalt und die Betreuung von Aurelio. Es war ein praktisches Arrangement, bei dem jede der beiden Vorteile für sich gewann, die der anderen keinen Nachteil bedeuteten.
Aude war von stillem Stolz beseelt. Das alles. Das alles schaffte sie. Und sie würde noch mehr schaffen, dessen war sie gewiss. Die Forschungsreisen stünden ihr erst noch bevor, so viel war klar. Der Tag würde kommen, an dem sie ihre Flügel spreizen sollte, um abzuheben, sie musste nur erst ihr Studium zu einem guten Abschluss bringen, danach würde sich schon alles geben. Auch mit dem Kind.
Ab und zu, wenn sie gut vorangekommen war und etwas Zeit blieb, ging sie mit Aurelio nach unten und besuchte ihre Großmutter. Großmami Senigaglia, über die Jahre halb taub geworden, saß oft stundenlang vor dem Fernseher, den sie bei offenem Fenster und offener Balkontüre auf volle Lautstärke gedreht hatte, und döste vor sich hin. Sobald sie jedoch Aurelios gewahr wurde, heiterte sie auf und brachte dem Jungen die Schachtel mit den Holzklötzen herbei, mit denen schon Nunzio und seine Geschwister gespielt hatten. Aude kochte Tee in der Küche und ließ Aurelio sein Wunder an Großmami vollbringen. Zwei Stunden später waren dann meistens alle drei glücklich und strahlten von innen heraus.
Über die Jahre des Studiums blieben die Abläufe dieserBesuche dieselben, und manchmal waren sogar die Worte, die die Greisin wählte, dieselben wie tags zuvor. »Aurelio, siehst du diesen Baum da drüben? Diesen breiten mit den ausladenden Ästen? Siehst du, wie flach er oben ist?«, und wenn Aurelio kicherte und gluckste und mit den Händchen aus dem Fenster zeigte, sagte sie: »Der ist so groß gewachsen, bis es Gott im Himmel zu viel geworden ist und er ihm seine Hand auf die Krone gelegt hat: So, jetzt ist’s genug!«, und dann legte Alda Senigaglia ihre von Arthrose knotig gewordene Hand auf den Scheitel ihres Urenkels, der sie belustigt abschüttelte, und beide lachten sie los, die Urgroßmutter und das Kind.
Die Libanon-Zeder war nur ein Baum von vielen, die den Seminargarten hinter dem Haus, auf der anderen Seite des Dorfbaches, zierten. Und in ihren Ästen zitterte und zappelte es, schwatzte und putzte, flügelte und schnäbelte es, dass Aude stundenlang hätte genauso am Fenster sitzen und hinüberschauen können.
Überhaupt hatte Aude zu beiden Großeltern von Anfang an ein vertrautes Verhältnis gehabt. Es war, als ob ihr die eine Generation Distanz Luft zum Atmen gäbe. Sie fühlte sich ungezwungener, wann immer sie ihre Großmami und früher auch ihren Großvati, ihre Omama und ihren Opapa besuchen ging. Ihre Blicke empfand sie als weniger bedrohlich, darin war sie einer Wildkatze ähnlicher als einem Vogel, auch sie mochte den geraden Blick in ihre Augen nicht.
Sie hatte schon früh lernen müssen, mit sich selber umzugehen. Sie sah und hörte es ja, dass sie anders war. Dass es nicht ganz normal war, so wenig zu sprechen. Und immer wieder gelangte sie in Situationen, in denen sie sich gewünscht hätte, eloquent zu sein, unterhaltsam, »in«. Aber sie war eben »out« und blieb auch ausgeschlossen von jeglicher Geselligkeit. Vielleicht kümmerte es sie
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