Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
Vom Netzwerk:
Fingern, die auf die Geige klopften, mit diesen goldenen Sprenkeln im Gesicht, dem Bernsteinblick, mit genau dieser Vehemenz in allem, was er sagte, allem, was er tat. Seine Authentizität bedeutete Aude Welten. Sein Tod eine Katastrophe.
    Es war ein abruptes Sterben, schnörkellos. Wenige Wochen nach diesem Zwischenfall begab sich Abel Ditrich ins Spital. Er hatte Schmerzen auf der Brust, und atmen fiel ihm schwer. Wasser in der Lunge, hieß es, und er müsste ein paar Tage bleiben.
    Mondaine besuchte ihn am Morgen, am Mittag und am Abend. Sie hielt ihm die Hand und tätschelte Zuversicht auf seine hervorstehenden blauen Adern.
    Am frühen Morgen des fünften Tages verkrampfte sich Abels Herz zum letzten Mal, und er starb. Kein sanftes Gehen, nicht so, wie wenn jemand im Schlaf leise in alle Richtungen gleichzeitig vergeht, sondern hart, im Kampf,mit einem Schlag. Mondaine hatte ihm am Abend zuvor noch einen Tee eingeflößt. Hatte ihm die wirren weißen Haare nach hinten gestrichen und den Schnauzbart gekämmt. »Bis morgen, mein Papeli«, hatte sie zu ihm gesagt, und Abel hatte erwidert: »Wenn ich dann noch da bin, mein Liebli.« Daraufhin hatte ihm Mondaine mit ihren weißen Handschühchen auf die Finger geklopft und ihn getadelt: »Natürlich bist du dann noch da, Abel, natürlich!«
    Zur Beerdigung spielten die Söhne und Töchter Gabriel Amiels Klarinette, Cello, Saxophon und Geige, und ein düsterer Mann mit einer verbittert dreinschauenden Frau drückte sich am Rande der Trauergemeinde herum. Es waren Abels Bruder Jacques und dessen Frau, die seit einem Erbschaftsstreit keinen Kontakt mehr mit diesem Teil der Nachkommenschaft von Elia und Cheina pflegten. Sie sahen wohlhabend und zugleich trist aus, fand Aude, die die ganze Gesellschaft mit ihrem Gehörsinn still infiltrierte. Als ihr Blick auf Omama fiel, senkte sie die Lider. Es war, als könnte sie ihre Gedanken hören.
    Natürlich bist du dann noch da, Abel. Natürlich.
    Was anderes wäre sonst auch vorstellbar gewesen?
     
    Natürlich nichts.

Páneurópai Piknik
    Sopron, 1989
    Flugblätter wurden verteilt. Gesichter glühten. Blicke schauten auf. Hände zeigten, noch ungewohnt, mit Daumen steil nach oben. Der Soproner Morgen des 19. August 1989 atmete das Odeur eines beinahe vergessenen Zustands: das der Freiheit.
    Hunderte von vermeintlichen Campingtouristen, die aus der DDR angereist waren, suchten den Grenzzaun ab. Die Zettel in ihren Händen sprachen deutsch und deutlich fast unglaublich befreite Worte. Ein Picknick sollte es geben, ein paneuropäisches – über die härteste aller Grenzen hinweg, von Ost nach West. Aufbruchstimmung. Abenteuerstimmung. Fieberhaftigkeit.
    Die ungarischen Grenzbeamten patrouillierten. Die Schäferhunde hechelten. Von den hölzernen Grenztürmen blitzten im Sonnenlicht Gewehrläufe auf.
    Rund um die Altstadt Soprons herrschte eine gespenstische Stimmung. Überall standen leere Trabis und vereinzelt Wartburgs herum, die Fenster und Türen offen gelassen wie Münder, die zahnlose Rachen zeigten, rote, weiße, blaue Wagen, auf deren Zuteilung die Fahrer jahrzehntelang hatten warten müssen, nun zurückgelassen zur Plünderung. Die Besitzer ausgeflogen. In Dutzendschaften an die nahe Grenze zu Österreich gepilgert, mit einem Kulturbeutel in der Hand, einem Kind auf dem Arm oder einem Kätzchen im Korb. Und mit nichts anderem angetan als der Kleidung, die sie auf ihrer Haut trugen. Das Ganze hätte einem Volksfest gleichen können, wäre da nicht dieseunheimliche Stille gewesen, die gedämpften Stimmen, die sich über ein Feld zogen wie eine Zeltplane.
    Der eine oder die andere mochte sich die Frage gestellt haben: Wer ist denn eigentlich diese Gruppe des Demokratischen Forums von Debrecen? Und wer genau verbirgt sich hinter den vielen Abkürzungen des oppositionellen Rundtischs von Ödenburg, unbekannte Organe, die gemeinsam zu diesem Picknick gerufen hatten?
    Aber auch wenn die Antwort nicht leicht zur Hand war, so war der Gedanke, »drüben zu sehen« und »drüben zu riechen«, ja eventuell sogar wirklich »rüberzugehen«, einfach zu mächtig. Er war übermächtig. Wenn, wie es hieß, tatsächlich der Eiserne Vorhang für ein paar wenige Stunden geöffnet werden sollte, wenn auf dieser Friedensdemonstration tatsächlich unter Zustimmung beider Länder, Österreichs und Ungarns, ein Grenztor zwischen St. Margarethen und Sopronkőhida geöffnet werden sollte, dann musste man es einfach riskieren. Man musste da sein

Weitere Kostenlose Bücher