Die Ruhelosen
Casino hinüber. Ich bin richtig verwöhnt worden von allen. Wenn ich so darüber nachdenke. Ja, ich hab es schon schön gehabt. Was noch …?«
Aude wartete, ihre Omama schnaufte schwer. Seit sie diese neuen Augentropfen nahm, litt sie an Asthma. Kein schöner Tausch, aber erblinden wollte sie auch nicht.
»Ja, dann ist halt dieses Gschtürm passiert, da ist alles anders geworden …«
»Mit deinem Vater?«
»Ja. Was könnte ich dir noch über ihn erzählen? Wart mal. Ah, dass er gearbeitet hat. Er war sehr seriös, was die Arbeit anbelangte. Er ist immer erst um zehn Uhr oder um halb elf ins Geschäft gekommen, aber er hat nie vor ein Uhr nachts aufgehört zu arbeiten, denn da hat er Bestellungen nachschauen können. Weißt du, wenn du so an die hundert Fabrikanten hast … wir mussten ständig Inventur machen. Wenn ein Artikel ausgegangen war, musste man ihn vermerken auf einem Extraformular. Und er hat geschaut, dass das alles stimmt, und hat die Bestellungen erledigt. Wir haben immer gedacht – ich darfs fast nicht sagen …«, Mondaine flüsterte nun: »… der spinnt ja, bis ein Uhr morgens zu arbeiten! Wir mussten bis sieben Uhr abends arbeiten. Aber er ist immer erst um ein Uhr, zwei Uhr nach Hause gekommen. Heute verstehe ich das, warum.«
Aude lächelte und wartete. Es war nicht nötig, einen Schubs zu geben, die Schleusen waren längst geöffnet.
»Da wohnten wir also noch alle in der Kramgasse. Die Schwester und ich haben zuoberst unter dem Dach gewohnt, unten waren der Salon und das Esszimmer. Schön war das gewesen! Dann waren da ihr Schlafzimmer und ganz unten das Atelier und das Geschäft. Wir hatten auch Bedienstete, eine Waschfrau. Die Mutter hat schon viel mitgeholfen zu Hause, aber sie hat ja nicht alles machen können.«
Die beiden Frauen blätterten durch die Albumseiten.
»Ja, und dann die Sache mit dem Pferd, was war das noch mal? Da muss irgendetwas gewesen sein, da haben sie mich getröstet und mir ein Pferd geschenkt. Entweder Tennisspielen oder ein Pferd, weil ich dort eben grad aus Lugano vom Urlaub zurückgekommen bin und etwas verstimmt war, da nahm ich natürlich das Pferd. Und ich konnte reiten gehen! Nach der Arbeit sind wir jeweils von der Reitschule her quer durch ganz Bern und durch den Rosengarten geritten und dann wieder zurück durch die Altstadt, treppauf und treppab, Jumbo hat alles mitgemacht. Da hieß es: Schau da, die Prinzessin vom Schön kommt angeritten! Weißt du, ich hatte blonde lange Haare, auf diesem Riesenross oben, aber ich bin mir dessen gar nicht bewusst gewesen. Die wollten unbedingt, dass ich auf Akrobatik mache, an der Longe und das Zeugs, der Reitlehrer dachte, ich sollte mehr als nur spazieren reiten. Mir war das alles nur so zugeflogen, und ich konnte das gar nicht richtig schätzen damals. Manchmal bin ich auch mit meiner Schwester Mausi ausgeritten. Oder mit Sandro.«
»Sandro?«
»Sandro war ein Freund. Der hätte mich auch heiraten wollen, jemine. Aber ein Toller, du, ein ganz Toller, sag ich dir! Der hat mir jahrelang geschrieben, ich habe noch Sachen von dem hier, schau, Briefe, der wollte immer wissen,ob es mir gutgeht. Er war Advokat-Student aus dem Tessin, und ich bin oft in die Tessiner-Pension gegangen, beim Zytglogge rechts. Ich wusste, dass er auch dort war. Aber so richtig gekommen mit dem Sandro ist das damals im Casino. Die Mutter und ich sind immer zuhinterst gesessen, da war so eine samtene Chaiselongue. Da spielte Musik auf der Bühne, und zwischendurch hat es einen Tanz gegeben.«
»Du wolltest mir von einem Sandro erzählen.«
»Ja, dann. Ich habe schon gesehen, dass die immer zu mir herüberguckten, dies und jenes taten, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Und dann haben sie abgemacht, der Sandro, der müsse mich jetzt holen kommen. Die haben ihm gesagt, geh ruhig, die kommt sicher nicht. Und der kommt, und ich stehe auf und gehe mit ihm tanzen! Ha! Die waren ganz baff. Und dann bin ich lang, viele, viele Jahre, mit ihm befreundet gewesen. Bis er sein Examen gemacht hatte und Anwalt wurde. Und er hat ja alles gewusst damals. Da war der Massimo, dein Onkel, zwei- oder dreijährig, als ich ihn Woche für Woche am Freitagabend von Oberbalm holen ging. Sandro ist immer mit mir mitgekommen, mit dem Bub spazieren, das war nicht selbstverständlich. Und der hat geheult, der Sandro, geheult, als sein Studium in Bern fertig war, er wollte nicht, dass ich zum Bahnhof komme, als er zurück nach Lugano musste. Aber er in seiner
Weitere Kostenlose Bücher