Die Ruhelosen
hatte nie Vorurteile, ich habe nur nachher gemerkt, wie das war, wie die Leute da eingestellt sind. Ich weiß noch, wie wir nach Küsnacht wohnen kamen, Abel war damals frisch aus Amerika zurück, und die Senigaglias, als ich diese Wohnung anschauen ging, da habe ich zum ersten Mal in meinem Leben erfahren, wie das ist, wenn man so von Kopf bis Fuß angeschaut wird. Das hatte ich nicht gekannt. Man hat das immer so gesagt,
von Kopf bis Fuß
… Aber es ist ja gutgegangen.«
»Wo ist eigentlich meine Mutter zur Welt gekommen?«
»Wart jetzt, die Emma ist 1946 zur Welt gekommen, da waren wir in Zürich … Oder war das vorher? In Basel? Nein, das muss Zürich gewesen sein. Weißt du, da hat eskeine Linie bei uns! Das war ein Zickzackflug durchs Leben und quer durch die halbe Welt. Abel hatte immer wieder neue Engagements, als ich ihn kennenlernte.«
Der Kassettenrekorder stoppte. Aude drehte das Band um. Draußen war es jetzt still, die Ziegen waren in eine andere Ecke des Freigeheges abgewandert, der Specht pausierte. Sie war froh, dass sie genügend Kassetten mitgenommen hatte, vorsichtshalber legte sie noch eine weitere auf den Tisch.
Als sie auf der Rückfahrt nach Zürich im Auto saß, hörte sich Aude das Gespräch noch einmal an und sah vor ihrem geistigen Auge, wie ihre Omama Bild um Bild in die Hand nahm und erzählte …
»Diese Fotos da, mit uns und dem Zigeunerwagen, das war in Arosa, im Hotel Bellevue, da fand jedes Jahr ein Musikerfestival statt. Abel hatte diese Idee gehabt, mit Zigeunerwagen und Zigeunermusik und so …, da war ich noch mit auf der Bühne, ich!«
…
»Wir hatten in Fribourg geheiratet, das weiß ich noch. Es war ein schönes Fest gewesen. Aber eben, der Vater ist ja nicht gekommen. Die Mutter war da. Sie war viel umgänglicher. Auf dem Foto, da ist noch Massimo dabei. Gabriel, Abels Sohn von Josiane, war da nicht dabei, das war er eigentlich nie …«
…
»In diesem Kleid hatte ich geheiratet! So, mit dieser Frisur! Das war der Tag der Hochzeit! Später habe ich Massimo von Oberbalm zu mir genommen. Er ging dann zur Schule an der Mühlebachstraße, mit acht. Und dann hatten wir Gabriels Eltern, den Pflegeeltern, geschrieben, wir würden den Gabriel gern zu uns nehmen. Das war wieder an der Arosastraße in Zürich Tiefenbrunnen gewesen, wunderbar,in einer Villa haben wir gewohnt und gedacht, so, jetzt nehmen wir grad beide Kinder! Damit Massimo auch jemanden hätte, das Alter hätte ja keine Rolle gespielt, er war ja nur ein paar Jahre jünger, der Gabriel. Auf alle Fälle haben seine Pflegeeltern zehn Seiten lange Briefe geschrieben! Wir sollen ihnen den Bub bloß nicht wegnehmen! Denn sie selber hatten ja ein Kind verloren, als sie ihn zu sich genommen hatten. Ja, das wäre furchtbar gewesen. Was will man da machen? Was ist richtig? Was ist falsch? Was macht man, wenn man jung ist? Was ist da der rechte Sinn?«
…
»Nach diesem Brief hatte man keinen Mut mehr gehabt, irgendwie. 1945 bin ich dann mit Emma schwanger geworden, zehn Jahre nach Massimo. Geheiratet hatten wir 44, und Abel hätte halt schon gern noch ein Kind gehabt, aber ich, irgendwie nicht speziell. Aber was willst du, wenn es denn so ist … voilà, dann hat man es halt gern.«
…
»Wir lebten von seiner Musik. Er war beim Radio als Konzertmeister angestellt.
Ich höre ihn noch heute mindestens zweimal die Woche am Radio. Im Archiv muss es noch Hunderte von Stücken geben, die Abel komponiert und instrumentiert hat. Dank seiner Tantièmen kann ich heute überhaupt in diesem
Grand-Hotel
leben! So viel hat er gearbeitet und geschaffen. Ich war richtig überrascht. Ich hatte ja keine Ahnung, dass er für mich ein Sparkonto eröffnet hatte, mein Zigeunerprímás. Er hat zwar immer wieder davon geredet, dass er mir eines Tages alles werde bieten können …, ich habe dem nicht so viel Bedeutung beigemessen.
Oft spielt man ihn noch am Radio. Auf DRS 1 oder Musikwelle. Ich höre das sofort, wenn es seine Geige ist. Welche Sender hörst du heute so?«
…
»Ich erkenne ihn. Sofort.«
…
»Ab und zu sind wir meinen Vater in Bern besuchen gegangen. Meine Mutter starb 54 an Wasser. Vater hatte das Geschäft nach sechzig Jahren aufgegeben, hatte privatisiert, wie das so schön heißt. Aber immer, immer, wenn wir ihn besuchen gingen, hatte er gesagt:
Ah, ich habe Arbeit, ich habe Arbeit!
, und ist nach hinten verschwunden, ab ins Atelier. Ich bin seine Katastrophe gewesen.«
…
»Probiermamsell war ich
Weitere Kostenlose Bücher