Die Ruhelosen
irgendwo ein Foto haben, ist mit uns in die Löverdings gekommen, das war so ein Freibad, wie hieß das noch gleich, Löverirgendwas. Der war Majordom beim Esterházy, sein Verwalter und Vertrauter, ein flotter Mann. Mit denen allen waren wir viel und oft zusammen, im ganzen Esterházy-Anwesen, wo sonst niemand hindurfte, dort gingen wir ein und aus. Spazieren, flanieren, parlieren und alles. Und am Neusiedler See durften wir mit auf Entenjagd. Aber als ich jung war, hat mich das weder beeindruckt noch interessiert. Für mich war das normal, weißt du? Majordom oder Stallknecht, das war für mich dasselbe. Ich habe nie einen Unterschied gemacht. Wir waren doch alles Menschen, nicht?«
Mondaines Gesicht wurde Wachs, als sie fortfuhr: »Mein Vater hat das nie akzeptiert. Er hat nie akzeptiert, dass wir normale Menschen sind. Wir mussten immer mehr als andere sein. Besser sein, schöner sein. Reicher sein. Aber was ist schon reich, Aude? Wer ist wirklich reich? Und weiß der Reiche, dass er’s ist? Der Vater hatte ja bald, nachdem er ausgezogen war in die weite Welt, ein Riesengeschäft gehabtin Montmartre oben! Er war ein bekannter Posticheur in Paris und ein gewiefter Händler. Sehr zuverlässig. Immer. Und als ihm ganz Paris zu Füßen lag, ist er in die Schweiz gekommen. Er und meine Mutter und mein Bruder haben im Hotel Schweizerhof logiert, vor dem Ersten Weltkrieg, da hat es ja keine Wohnungen und nichts mehr gegeben, also haben sie im Schweizerhof in Bern gewohnt, und alles, was sie hatten, haben sie eingestellt, bis die Wohnung kam.«
»In Bern bist du aufgewachsen?«
»Mein schönes Bern. Die Laubengänge, kennst du die überhaupt? Weißt du als Zürcherin denn, wie schön der Sommer unter den Lauben ist? Ach, noch einmal nach Bern fahren, das wäre schon etwas. Mein Vater, der hatte viele Beziehungen, und so hat er in der Kramgasse ein Geschäft eröffnet. Das ganze Haus war seines. Die ganze Kramgasse 79.«
»Während des Ersten Weltkriegs?«
»Mein Vater war ein Deserteur. Er war nicht ins Militär gegangen. Er hätte doch in Ungarn dienen müssen, aber er ist desertiert. Das heißt, er konnte nicht nach Hause – nach Ungarn –, lange Zeit nicht mehr. In der Schweiz war das kein Problem. Er hat ja gut geschäftet, war bald ein kleiner Berner. Sprach sogar Berndeutsch fließend! In unserer Familie waren wir schon immer sprachbegabt. 1916 bin dann ich auf die Welt gekommen.«
Aude brauchte nichts zu sagen, die Erinnerungen flossen wie viele kleine Ströme zu einem großen zusammen, der das Landschaftsbild neu bestimmte.
»Alles gab’s
en gros
bei uns! Ich weiß gar nicht, wie er damals auf diese Idee gekommen ist. Er hat Toilettenartikel en gros eingekauft und weiterverkauft. Andere Coiffeure, Parfumerien, Drogerien, Apotheken, alle haben sie bei ihm eingekauft! Und alles haben sie bei ihm bekommen.Die Firma Schön, das war eine Goldgrube. Sehr seriös, wenn jemand etwas bestellt hatte, lieferte er prompt! Wir haben ja die ganze Schweiz beliefert! Am Morgen, mei, was mussten wir nicht alles Päckchen schnüren! Und jeder im Land wusste, er bekommt tipptoppe Ware. Im Ausland gab es Grossisten, in der Schweiz war das eine Novität. Ab und zu kaufte einer etwas billiger im Ausland ein und wunderte sich danach, dass er reingefallen war. Beim Schön gab es das nicht. Keine Betrügereien, auch keine noch so kleinen. Darauf baute er. Ich weiß nicht, ob du dir das vorstellen kannst. Wir hatten ja weit über hunderttausend Artikel in Kammwaren! Du machst dir keinen Begriff davon, was es alles an Kammwaren gibt! Und jede Sendung, die eintraf, musste kontrolliert und etikettiert werden. Kammwaren aus Frankreich, aus der Tschechoslowakei Glaswaren, damals gab es überall diese schönen Glaswaren, mit roten Schillerdingen, so gerippeltes Glas, das ist first class gewesen, sag ich dir! Aus dem Fürstentum Liechtenstein haben wir Haarnetze bezogen, und der Firma Solis hat mein Vater sogar noch mit einem Kredit ausgeholfen, damit die überhaupt starten konnten! Oh, was sind wir nicht alles herumgereist, um von überall her das tollste Zubehör zu beschaffen! Wir führten über 170 verschiedene Bürstenmodelle. Und wir hatten Hunderte Sorten von Rasierpinseln und Zahnbürsten, Manicure-Etuis und Puderdosen, aber auch Frisierhauben und Lockennadeln, alles, alles hatten wir. Wasserwellenklammern und Nackenroller, Alaunstein-Blutstiller, Lederstreichriemen und Watteschnüre, Wattebauschen und Puderquasten aus
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