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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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muss an der Teichmühle gewesen sein! Und hier, ist sie das nicht noch einmal« – Dóra blätterte rasch um –»im Lövér Bad? Schau nur, welche Freude sie hat! Und hier, beim Aussichtsturm, ich weiß, wo der steht, es gibt ihn heute noch. Ich führe dich später hin, wenn du das möchtest.«
    Aude war ganz überwältigt. Die Tatsache, dass sie Haut an Haut neben einer ungekannten ungarischen Verwandten saß, die ihr die eigene Omama so unerwartet nahbrachte, die sie aufleben ließ, dass man das Gefühl hatte, sie selbst wäre mit im Raum, berührte sie mehr als alles andere.
    Es folgten Bilder vom Neusiedler See, Bilder von Schloss Esterházy auf Fertöd und Bilder von Schloss Esterházy in Eisenstadt, Gartenbilder, Waldbilder, Wasserbilder, Sommerbilder, Strahlebilder. Auf ihnen allen zeigte sich eine vor Lebenslust strotzende Mondaine. Taufrisch und so wunderschön, dass es einem in den Augen weh tat.
    »Soviel ich weiß, hat deine Omama meiner Mutter Päckchen geschickt während des Krieges. Strümpfe, Schokolade, Schreibmaterial. Ich erinnere mich dumpf daran, dass meine Mutter von einer Cousine im Ausland gesprochen hat. Aber ich weiß es nicht mehr genau.«
    Bild um Bild wurde Aude in die eigene ungarische Familiengeschichte eingeführt, lernte Großonkel und -tanten kennen und konnte in ihren Gesichtern deren Leben lesen.
    »Bei mir zu Hause finden wir sicher noch mehr Fotos. Ich könnte dir Briefe zeigen und Karten auch. Und wir könnten, wenn du das möchtest, auf den Friedhof gehen, die Gräber besuchen, und ich könnte dir auch die Wirkstätten deiner Vorfahren zeigen, damit du siehst, wo sie Kundinnen frisiert haben und wo gelebt.«
    Und während Dóra noch redete und ein wunderbares Angebot ans nächste knüpfte, erwuchs in Aude ein neuer Plan: die Erfassung ihrer Herkunftsfamilie mittels Tabellen, Grafiken und Verbindungslinien.
    Die Idee, einen Stammbaum zu erstellen, nein, mehr alsnur das, eine multimediale Sammlung von Bildern, Tondokumenten, Interviews und Briefen, Zeitungsartikeln, da musste doch sicher etwas zu finden sein in den Archiven, jaja, genau, ein Universum von Zeitdokumenten, um das Ganze als fertiges Werk eines Tages ihrem Sohn zu schenken!
    Um so die Geschichte in ihrer Familie weiterreichen zu können, das kostbarste Gut und endlich, endlich auch etwas, das sie, Aude, mit den Menschen ihrer Welt verband, sie selber einbinden könnte in dieses Band der Geschichte, die eine Geschichte der stetig Ziehenden war, eine der Getriebenen, und jetzt eine der Findenden.
    Und während also seit Jahrhunderten die Senigaglias, die Israëls, die Immers und die Schöns vor ihren Familien geflüchtet waren, mit ihren Vorfahren und dem Leben der Altvorderen, mit deren Religionen und Glauben, Gepflogenheiten und Anstandsregeln gebrochen und ihrer Herkunft für alle Ewigkeiten den Rücken gekehrt hatten, drehte sie sich nun als Erste um und wandte sich eben dieser Vergangenheit zu. Aude ging ihnen allen mit offenen Armen entgegen.
    Noch in Sopron begann sie zu systematisieren. Schrieb Namen und Daten auf und fügte sie in einen Stammbaum ein, dem sie in den folgenden Tagen und Wochen Zweig für Zweig entgegenfahren wollte. Sie sammelte Bildmaterial, scannte ein und schickte sich alles per E-Mail nach Hause. Sie führte Interviews und nahm Gespräche auf, Lieder und Geschichten und stand ganz am Anfang einer Reise, aus der sie, und das wusste sie, nicht genauso hervorgehen würde, wie sie sie angetreten hatte. Es war schon immer so gewesen bei Aude, was sie tat, das tat sie ohne Rücksicht. Und ja, sie wusste, was auf sie zukam, sie kannte das aus ihren Studien- und den Forschungsreisen; sie lachte: Ich habe eine Disziplin, die ist zum Fürchten.

Cuauhtemallan, Land der Bäume
    Río Dulce (Frontera, Guatemala), 2010
    Voriges Jahr war er siebzig geworden, Guido, das schwarze Schaf der Familie Senigaglia, vor Anker mit seiner schuppenflechtigen Roaring Thunder in Río Dulce Guatemala, zwischen dem Atlantischen und dem Pazifischen Ozean, ließ er, ein Glas Ron Zacapa Centenario, goldener Rum aus Zuckerrohr, das in der schwefeligen Vulkanerde Guatemalas gewachsen war, in seiner linken Hand, die Frau an seine rechte Seite lehnend, sein Leben noch einmal Revue passieren. Zumeist schwieg er gedankenvoll. Nur das eine oder andere Bild kommentierte er. Und ab und zu zitterte sein Fuß, eine Bewegung, die ihm durch den Körper fahren wollte, von ganz unten nach ganz oben, die er aber spätestens am Knie

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