Die Ruhelosen
verstorbener Ehemann war der Bruder einer Frau, die mit einem Schön verheiratet war. Wir suchen nun deren Enkeltochter. Warten Sie. Und bestellen Sie sich etwas zu trinken!«
Wenige Minuten später saßen Aude drei Frauen mit Handys gegenüber. Die Suche nach Verwandtschaft, Familie!, war in vollem Schwange.
Ilonka zeigte Aude verschiedene Aufnahmen. Gesichter in Schwarzweiß, verschwommen, ernst, mit tiefen, schweren Augen. Aude hörte Namen, ungarische Vor- und Familiennamen, die sie ihrem Klang nach ordnete. Weich wie Wasser, hüpfend wie Tropfen, kugelnd wie Murmeln auf einer hölzernen Bahn.
Plötzlich streckte die blonde Dame Aude ihr Handy über den Tisch hinweg entgegen und sagte: »Bitte. Eine echte Verwandte, Dóra Hámori. Sprich mit ihr, sie versteht gut Deutsch!«
»Äh, mein Name ist Aude Senigaglia, ich komme aus der Schweiz. Ich habe soeben gehört, wir seien verwandt. Meine Großmutter war eine Schön. Aus dieser Gegend. Mondaine Schön. Äh, sagt Ihnen das vielleicht irgendetwas?«
»Meine Mutter war eine Schön.«
»Oh. Ich glaube, dann sind wir tatsächlich verwandt.« Aude suchte nach den richtigen Worten, einem Satz, der jetzt angebracht wäre, und probierte: »Ich weiß nicht, hätten Sie vielleicht Zeit, vorbeizuschauen? Damit wir uns kennenlernen?«
»Ja, ich habe Zeit. Und ich habe Lust dazu.«
Das war Dóra Hámori. Die Tochter einer Cousine von Mondaine Schön. Ungarische Verwandte, Spross vom gleichen Trieb und noch jenem Boden verwurzelt, dem Mondaine einst entrissen worden war.
Und gar nicht lang, da stand sie da, in Fleisch und Blut, schmal, mit zaghaft hängenden Schultern und einem scheu hoffenden Blick, zauberhafte Verbindung der alten mit der neuen Welt. Die beiden Unbekannten umarmten sich. Lange. Und beide still, mit tränenerstickter Stimme wollte weder die eine noch die andere den Mund auftun.
Später, mit dem Aufschlagen der mitgebrachten Fotoalben, öffnete sich gleichsam ein Tor zu einer Vergangenheit, ein Durchlass zu einer Zeit, die einmal eine gemeinsame gewesen sein musste. Seite um Seite folgten sie den einzelnen Ästen, kamen näher zum Stamm, und es stellte sich unleugbar heraus, dass Dóras Urgroßvater ein gewisser Ferenc Dušan Schön gewesen war, ein unglücklicher Ungare mit drei Frauen, Krisztina, Anna Leopoldina und Zelma, seines Zeichens Ururgroßvater von Aude Senigaglia. Die beiden Frauen rekapitulierten. Aus seiner Ehe mit Krisztina muss Mondaines Vater hervorgegangen sein, Ferenc Schön, der sich später François nannte, und aus der dritten und letzten Ehe mit Zelma Imre, Balin und Lipot, wovon Balin Dóras Großvater gewesen war, ein geachteter Perückenmacher, lange Zeit wohnhaft an der Müller-Paulin-Straße, heute Hinteres Tor 1, was im Übrigen gar nicht weit entfernt war vom Hotel Palatinus, wo Aude logierte. Nur wenige Minuten, wenn überhaupt. Dóra hatte nicht gewusst,dass sie noch Verwandte aus jenem Zweig hatte. »Ich habe stets geglaubt, ich sei die letzte der Schöns. Seit meine Mutter gestorben ist, gibt es nur noch mich.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass meine Omama ähnlich gedacht hat.«
»Omama? Lustig. Ich nannte meine Großeltern Omami und Opapi.«
Sie schauten Bild um Bild an, und Dóra zählte weiter die ungarische Verwandtschaft auf. Ein Familienbaum, an dessen einem Ast nun neu auch Aude baumelte.
Vergessen war, dass Aude eigentlich wegen der Vögel ins Land gekommen war, jetzt galt nur dies: die Magie des Momentes zu bewahren, der noch immer nicht abebben wollte, der anhielt. Der gekommen war, um zu bleiben.
Plötzlich glaubte Aude ein Gesicht, ein perlendes Lachen über weißen Zähnen, eine ganz besondere Schulterhaltung zu erkennen. Sie zeigte mit einer Bewegung auf das Bild und fragte Dóra: »Weißt du, wer das ist?«
»Nein«, Dóra überlegte, »ich bin mir nicht sicher.«
Aude verspürte ihn ganz deutlich, den Flügelschlag der Zeit, als sie mit trockenem Mund zu sprechen anhob: »Ich bin mir ganz sicher, dass sie es ist. Das ist meine Omama, das ist Mondaine Schön.«
Hier stand sie. Strahlend, entspannt, mit beiden Füßen fest auf ungarischem Boden. Gerader Blick voller Frische in die Kamera gerichtet: Seht! Seht mich an, ich bin des Lebens reinste Lust!
Aude überlegte, ob ihre Omama da schon schwanger gewesen sein konnte. Ob das die Zeit war, in der sie ihre letzten sorglosen Jungmädchenmonate verlebte, kurz vor all dem Drama.
»Deine Omama war die Cousine meiner Mutter – ah …, schau, das
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