Die Ruhelosen
Ungarin?«
»Ich glaube, ihre Vorfahren stammten aus Sopron.«
Die andere klarte auf: »Wie heißt sie denn?«
»Schön. Mondaine Schön.«
»Schön, hm. Das ist kein häufiger Name in Sopron.«
Aude richtete sich darauf ein, einen Moment zu schweigen.Die Frau fingerte an ihrem Handy herum und schwätzte. Es klang geschäftig, wichtig, verlangend. Wie dumm, wie dumm aber auch, dass ihr Mann krank war.
Schön
war das einzige Wort, das Aude ab und zu aus dem Kauderwelschflüsschen herausfischen konnte. Schön, ihre Omama Mondaine Schön. Natürlich! Von Sopron hatte sie doch erzählt! Von Sopron und von Miskolc! Und von einem Schloss oder zweien, wie hatte sie nur nicht daran denken können bei der Planung ihrer Reise! Mehr als zehn Jahre war es her, seit sie ihre Omama auf Tonband aufgenommen hatte. Sie hätte, vielleicht, wer weiß, aber nein, die Angaben waren doch zu vage gewesen, nicht wahr, im Wabern des Nebels der Vergesslichkeit versunken, und wer wusste denn überhaupt, ob das alles immer gestimmt hat, was Omama da fabuliert hatte, ob das nicht auch einfach Legenden waren, aus denen sich Familienmitglieder ihr Historienkorsett schnürten, jedem einen kleinen Grafen in die Ahnentafel hinein, ha, Aude musste plötzlich lachen.
Die Frau ihr gegenüber, die sich weder vorgestellt hatte noch ihr die Hand zur Begrüßung gereicht, hatte helle Augen, hell wie eine Wasserquelle. Die Furchen auf ihrer sonnengebräunten Stirn waren quergeritzt, um die Mundwinkel zitterte eine Mischung aus Süße und Bitterkeit wie schwarze Schokolade.
Jetzt schaute sie Aude über ihre Handyfaust hinweg an, sagte jó, jó und igen, igen, gut, gut und ja, ja, nickte ungeduldig, das Telefongespräch musste bald zu Ende sein. Dann stand sie auf, nickte Aude zu und sagte: »Auf dem Friedhof gibt es ein Grab Schön. Kommen Sie mit, ich bringe Sie zu jemandem, der etwas darüber weiß.«
Die Dame hatte Aude am Haken, griff sie sich und zog sie mit sich durch die Lobby, aus dem Hotel und in die Gasse hinein. Aude blieb keine Zeit, nachzudenken. Sie musstesich sputen, um mit der Ungarin Schritt zu halten, jeder noch so scheue Einwand wäre sinnlos gewesen, da ihre Führerin bereits in ein neues Telefongespräch vertieft war. Aude achtete nicht auf den Weg, sondern versuchte, ihre Anspannung loszulassen und weich und willig hinterherzulaufen, was wäre schon ein Tag von drei Wochen, die ihr hier in Ungarn für ihre Vogelerkundungsreise zur Verfügung standen. Also.
In einem Hinterhof plapperte sich die Frau in die Küche eines Restaurants hinein, wo ein junger Koch oder Hilfskoch ebenfalls in ein Handy sprach. Die beiden schauten sich an und wechselten noch das eine oder andere letzte Wort via Funknetz, dann beendeten sie das Handygespräch und redeten von Angesicht zu Angesicht weiter.
»Dieser hier ist ein Stöckert, kein Schön. Stöckert gibt es Hunderte in Sopron und Umgebung.«
Ah, ja. Für Aude hieß das so viel wie, dieses hier ist keine Stockente, es ist ein Weißstorch. Da wurde die eine Gattung durch eine andere einfach mal so ausgetauscht. Man führte sie durch die Küche hinein ins Étterem. Die Tische waren alle unbesetzt, vermutlich war noch nicht einmal regulär geöffnet. Rotweiß karierte Tücher lagen diagonal, auf jedem Tisch ein Blümlein in einer Vase. Audes kurzer Blick auf die Speisekarte zeigte, dass hier Deftiges geboten wurde. Sie holte einmal tief Luft.
»Moment.« Die Frau, die abermals bei einem neuen Jemand am Handy Erkundigungen einholte, machte ihr ein Zeichen.
Als von hinten im Restaurant eine weißhaarige Dame auf den Tisch zugezockelt kam, steigerte sich der Tonfall der Telefonierenden um eine halbe Oktave. Aude nahm gerade noch wahr, wie ihr Lebenszug über eine Weiche glitt, schon hielt ihr die alte Dame beide Hände zur Begrüßung hin.
»Das ist Ilonka. Sie ist mit Ihnen verschwägert.«
Die Dame mit Namen Ilonka trat einen letzten Schritt auf Aude zu, mit tränengeflutetem Blick, dann schloss sie sie in beide Arme.
Aude fühlte die Unanfechtbarkeit dieses Moments, und zum ersten Mal in ihrem Leben empfand sie sich berechtigt, da zu sein. Am Leben, im Leben, genau jetzt, genau hier.
Sie hielt das Mütterchen in ihrem Arm, diese kleine Frau, als wäre sie ein Kind. Sachte schaukelte sie sie hin und her, und als sich die Alte endlich löste, strahlte Aude ein Liebesglühen entgegen, als wäre sie die Überbringerin einer lang ersehnten Botschaft, eine Überbringerin des Lichts.
»Ilonkas
Weitere Kostenlose Bücher