Die Ruhelosen
Sie ging nicht aus dem Haus, traf keine Leute, unterhielt sich mit keiner Menschenseele und hatte so Guido die Rückkehr in die Heimat abzutrotzen versucht.
Als er bemerkt hatte, wie unglücklich sie war, hatte er versprochen: »Ein Jahr, nur ein Jahr lang durchhalten, dann können wir wieder nach Hause.«
Aber Guido war damals schon mehr in den USA zu Hause, als er es in der Schweiz je gewesen war.
Ein guter Flächenmaler war er geworden, einer, der auch vor den größten Brückenprojekten nicht zurückschreckte und alles mit kräftigem Strich anmalte, was ihm das Leben bot. Nur großzügig, weiträumig, breitflächig musste es sein. Nicht nur einmal hatte er Farbe vertrocknen lassen in siegerischem Trotz,
wer ist jetzt der Stärkere, Vati, wer?
Nach einem Jahr, als ihn Angeline daran erinnert hatte, dass sie jetzt gerne wieder Angelika sein wollte, war von seinem Versprechen keine Rede mehr. »Hier sind wir und hier bleiben wir«, hieß es nur. Wohl oder übel musste Angeline Englisch lernen und ein neues Daheim aufbauen in Amerika. Und als dann spät, sehr spät in ihrem Leben, die Finanzkrise über sie hereingebrochen war und sie alles zu verlieren drohten, war es wiederum Guido gewesen, der den Kurs bestimmte. Ein Boot sollte es sein, und länger als drei Monate im Jahr wollte man an den Küsten Amerikas nicht ankern, der Steuern wegen. Warum auch nicht, wenn einem Inseln, Meere und ganze Kontinente zur Verfügung standen!
Seit vier Wochen war es Río Dulce in Guatemala.
Den heutigen Abend hatten sie noch für sich. Morgen würden ihre Kinder mit ihren Familien zu Besuch einfliegen.
»Eigenartig«, sinnierte Guido, »dass ausgerechnet heute eine E-Mail mit all diesen Fragen meiner Nichte Aude bei uns eingetroffen ist. Ich kenne die ja kaum.«
Teil 7
Brutfürsorge. 2010–2011
Vögel sind Sonnentiere. Das Licht steuert ihren Lebensrhythmus.
quergedacht
Zürich, 2010
In wiederkehrender Regelmäßigkeit schüttelte die Schweiz ihr Gefieder und plusterte sich auf, als wäre sie eine preisgekrönte Kreuzung zwischen Pfau und Schwan. Ein Pfwan oder ein Schwau vielleicht. Und mit überraschungsloser Gewissheit vermochte sie doch immer wieder jene zu überrumpeln, die daran glaubten, sie hätte sich nun endlich genug gemausert und sich mit der Farbigkeit ihres Federkleids abgefunden. Aber nein, sie schlug mit den Flügeln, als gälte es, rechte und linke Haken zu verteilen. Selber gab sie sich unantastbar, und war dabei so verletzend würdelos, schamlos und ohne jedes Taktgefühl brutal. Wie im Jahr 2009, so auch 2010.
Was früher Überfremdung hieß und durch Assimilierungsmaßnahmen wettgemacht werden wollte, nannte sich nun mangelnde Integration. Balkan Raser oder deutsches Feldmarschallgehabe – keine Lettern zu roh, als dass sie nicht immer und immer wieder auf die Frontseite der Boulevardblätter gesetzt wurden mit, wie es schien, systematischer Gewalt. Die Angst vor dem »Ausverkauf der Heimat« grassierte wieder einmal, und virulent, wie solche Ängste nun einmal sind, fand sie in noch so manchem Bünzlihirn einen dankbaren Wirt. Fremdes und althergeholtes Gedankengut, aufgemotzt, als wär’s eine Idee jüngster Tage. Es schien, das ganze Volk war dazu bereit, etwas Ungehöriges zu tun, endlich einmal nicht nur die Faust im Sack zu machen, sondern laut aufzumüpfen, und dies vor allem: gehört zu werden in der Welt. Der weiten. Fremden.
Und so hatten am 29. November 2009 der Schwan mitden Flügeln und der Pfau sein Rad geschlagen, und der langgediente eidgenössische Abstimmungsprognostizist Claude Longchamps erlitt einen ganz und gar fürchterlichen Plumps auf seine Nase.
Noch bis kurz vor der Eidgenössischen Abstimmung hatte er wacker eine Nein-Mehrheit von 53 Prozent geweissagt, souverän und selbstsicher, so wie jedes Jahr, so wie immer, so, wie die Schweiz nun einmal vorhersehbar war, und war dann mit über 57 Prozent Ja-Stimmen gehörig zu Boden geklatscht. Dieses Ergebnis war ein Skandal. Den Mitarbeitenden des Forschungsinstituts war es ein Rätsel, das mehr als bloßes Kopfschütteln und Stirnrunzeln auslöste, und die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft SRG SSR idée suisse distanzierte sich vorsichtshalber bis auf weiteres von Longchamps, und keiner im Lande, der einigermaßen links dachte und das Herz am rechten Fleck hatte, wusste, was denn genau geschehen war. Es war kein schönes Erwachen, sondern eines mit schwerem Gebrumm im Kopf. Und so sinnierte man tags darauf und
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