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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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festen Platz im Gefüge gefunden hatten. Selbst die Mutter, dem Familienbild im hölzernen Rahmen ja irgendwie abhandengekommen, war fester mit ihnen allen vertäut, seit sie ihr eigenes kleines Farmerdasein auf einer Finca leben durfte, wo sie Hunde von Tötungsstationen rettete, Mischlinge und Podencos nach der Schweiz vermittelte und sich immer wieder voller Selbstaufopferung Streuner-Sterilisationskampagnen hingab. Ihr drittes Leben, wie sie es nannte – nach dem Singen, dem Haareknüpfen, nun die Hunde. Die Töchter erwähnte sie bei ihrer Aufzählung nicht. Auch dies ein Grund, weshalb Aude Familiengebilde fürchtete. Irgendwie lag darin stets mehr verborgen, als sichtbar war. Irgendwie bedeutete Familie immer auch Gefahr. Oder war es nicht so?
    War es nicht so?
    Auf all ihren Reisen wurde sie von diesem Gefühl der Rastlosigkeit angetrieben. Es füllte sie wie eine Schwangerschaft, und Aude erinnerte sich an die Hündin Lara, die Jahr für Jahr scheinschwanger geworden war und ihren Gummiknochen wie einen Welpen mit sanft angehobenen Lefzen leckte und zu sich ins Körbchen trug.
     
    Der nächste Morgen war eine Wucht. Sonne, die mit kräftigen Armen vom Himmel langte, und ein Taubenpärchen – blau geganselte Köröser Tümmler, tatsächlich! –, das auf ihrem Fenstersims begeistert gurrte.
    Im Frühstückssaal wurde das Buffet erst aufgebaut. Ein Suppenteller voll kleiner Bütterchen, ein Berg Marmeladeportionen, drei große flache Teller mit Tomatenschnitzen,Gurkenrädchen und Peperonistreifen darauf. Weiße Semmeln mit Mohn. Ein Samowar mit Heißwasser für Tee, Aude entschied sich für einen Assam aus dem Beutel. Der Kaffee roch gefährlich nach Chicorée. Sie setzte sich alleine an einen der vielen Tische. Die meisten Touristen, die so früh in den Frühstückssaal kamen, waren Ungarn. Ein Geschnatter, eine Sprachmelodie, die sie in glückliche Entenweiherstunden versetzte, und sie lächelte.
    Sie hatte gut geschlafen, war in einen tiefen Pfuhl versunken, in dem sich ihre Sorgen mit dem Erdreich vermengt hatten und aus dem sie am Morgen früh wie ein frisch ausschlagender Lotustrieb hervorgegangen war.
    Auf acht Uhr dreißig war das Treffen mit dem Ornithologen angesetzt. Zeit genug, sich oben die Zähne zu putzen und den Geräuschen, die aus den Gassen bis an ihr Fenster drangen, zuzuhören.
    In der Lobby sackte das Sofa durch. Es war Aude peinlich, mit hohen spitzen Knien, die ihr fast ans Kinn reichten, auf einen Fremden zu warten. Ihr Po berührte durch das Leder beinahe den Boden.
    Acht Uhr dreißig.
    Auf dem Plasmabildschirm lief ein Autorennen, eine Aufzeichnung vom Ungarnring. Ah, den gab’s ja hier.
    Acht Uhr zweiundvierzig.
    Waren die Ungaren unpünktliche Leute? Die gängigen Clichés der Schweiz: Kühe, Käse, Uhren und die vielgepriesene Pünktlichkeit.
    Acht Uhr neunundvierzig – was wusste sie über die Ungarn? Ungarns Vögel hätte sie blind aufzuzählen gewusst von eins bis zweihundertzehn, aber die Menschen?
    Eine kleine hellblonde Frau trampelte in die Lobby, warf einen Blick zur Reception, warf eine Handvoll Worte hinterher und war zwei Schritte später vor Aude aufgebaut wie eine Trutzburg vor dem Schloss.
    »Aude Senigaglia?«
    »Ja.«
    »Mein Mann ist krank. Er kann nicht kommen. Er hat mich geschickt. Aber ich weiß nicht, worum es geht und was Sie überhaupt wollen.«
    Flatter, flatter, die Dame war ziemlich auf Zack. Aude hatte so etwas schon oft erlebt, im Tierreich, aufgebrachtes Gebaren, da war’s am besten, selber Ruhe zu bewahren und eine Demutshaltung anzunehmen. Sie zog die Knie, so gut sie konnte, noch näher an sich heran und senkte den Kopf um Millimeter.
    »Ich bin Ornithologin. Ich bin hierhergereist, weil ich Großtrappen, ein Tier aus der Ordnung der Kranichvögel, beobachten will. Ich bin gestern angekommen. Sopron ist ein hübsches Städtchen.«
    »Ja, und ich habe viel zu tun. Ich arbeite im Tourismus, also wenn Sie wollen, organisiere ich Ihnen einen Ausflug zu Ihren Vögeln.«
    Diese Frau hatte offenbar keine Ahnung, wovon Aude sprach und was eine Ornithologin brauchte, geschweige denn, was sie mit ihrem Mann alles hätte besprechen, austauschen und ansehen wollen. Nun denn, so war’s. Die Frau war mittlerweile gegenüber in einen ebenfalls sehr denkwürdigen Ledersessel gesunken und unterhielt sich auf Ungarisch mit sich selbst. Aude versuchte es mit einer kleinen Freundlichkeit:
    »Der Klang Ihrer Stimme erinnert mich an meine Omama.«
    »So? Ist sie

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