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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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noch Wochen danach mit wunden und wehen Worten darüber nach, wer denn diese 57,5 Prozent Mehrheit gewesen sein mochte, die am 29. November 2009 gegen den Bau von Minaretten gestimmt hatte. Einzig die verlässlich sozialistischen Kantone Waadt, Neuenburg, Genf und Basel-Stadt bildeten Ausnahmen, wenige bunte Flecken im Schwarz und Weiß der Holzschnittartigen. Die Schweiz hatte also abgestimmt. Sie hatte es denen gezeigt. Denen, die für den Terror in der Welt verantwortlich sein sollten. Denen, die dunkle Bärte trugen und lange Röcke. Denen, die einen schwarzen Würfel anbeteten und so unerträglich anders waren als alles, was in der Schweiz bislang Aufnahme gefunden hatte. Die als nicht integrierbar galten. Die Volksinitiative »Gegen den Bau von Minaretten« hatte die Schweiz in ihren Grundfesten erschüttert wie ein Erdbeben.
    Und dann 2010 die Ausschaffungsinitiative.
    »Als ob das Garant für altehrwürdige Schweizer Werte wäre. Und welcher Art sollen diese überhaupt sein? Wirklich? Nicht im Sinne von Legendenbildung.«
    Aurelio knüllte die Zeitung zusammen und pfefferte sie in den Abfalleimer, als wären die Lettern vergiftet. Er war bei seiner Mutter zu Besuch, seit er mit Şirîn zusammenwohnte, aßen Mutter und Sohn beinahe öfter zusammen als vorher. Er kam vorbei, und sie kochte. Es war, als probiere Aurelio neue Begegnungswege aus, erwachsene, indem er auftauchte und verschwand, ohne darüber berichten zu müssen. Und so war es auch, wie er sich fühlte: erwachsen.
    »Für Şirîn würde ich sogar konvertieren.«
    »Wieso konvertieren? Du bist ja nicht einmal getauft!« Aude lachte zweifelnd.
    »Mich bekennen dann halt.«
    »Das sagst du jetzt nur so.«
    »Querdenken, das ist das Einzige, was weiterbringt.«
    »Aurin.«
    »Das Klima ist kälter geworden, Mum. Şirîn spürt das jeden Tag.«
    »Auf dem Steueramt?«
    »Hast du denn nicht begriffen, worum es den Leuten geht?«
    »Um diesen Turm, von dem der Muezzin die Gebete ausruft, um kriminelle Ausländer, die des Landes verwiesen werden sollen.«
    »Um diesen Turm, Mum, also wirklich!«
    »Nun ja, für Schweizer Verhältnisse ist so ein Minarett halt ganz schön steil … aber natürlich, weiß ich, worum es geht. Um Schwimmverbote für Mädchen, Burkas, Burkinis, Kopftücher und Zwangsehen. Um die Angst vor dem Fremden, um die Illusion, einzigartig zu sein und besser als alle anderen. Um das Symbol des weißen Kreuzes auf rotem Grund, den ganzen Senf, den die Zeitungen halt nochso gerne bringen. Und das glauben Herr und Frau Schweizer mit Initiativen zu lösen. Die noch zudem gegen die Menschenrechtskonvention verstoßen.«
    »Es geht um 09/11, es geht um alles oder nichts.«
    »Du bist radikal, Aurin. Aber ich finde auch: Lass die Muslime doch ihre Moscheen haben mit ihren Minaretten. Die Juden haben ihre Synagogen, und sogar die Tibeter haben in Rikon eine Art Kloster. Was ist schon dabei. Warst du überhaupt abstimmen?«
    »An mir lag’s jedenfalls nicht.«
    Aude beigte noch einmal etwas Kartoffelpüree auf den Teller ihres Sohnes, dann drückte sie mit dem Saucenlöffel eine Mulde hinein.
    »Wie früher«, er schmunzelte.
    »Trägt Şirîn eigentlich manchmal Kopftuch?«
    »Nie. Und wenn. Sie ist hier geboren, aber die Schweiz kennt ja kein jus soli! Leider. Und dabei arbeitet sie auf dem schweizerischsten aller schweizerischen Ämter: dem Steueramt.«
    Während Aurelio Kartoffelstampf in sich hineinlöffelte, dachte er über Şirîn nach, und wie sich ihrer aller Leben durch sie verändert hatte.
    Şirîn Arslan war in Aurelios Leben wie ein Luftzug gekommen, dessen Kraft man erst realisiert, wenn man sich dagegen anstemmen will. Ihr Vater, ein Kurde, stammte aus Diyarbakır, einer türkischen Provinz in Südostanatolien. Entgegen jedweder Vernunft hatte dieser sich in eine Türkin verliebt und war mit ihr durchgebrannt. Mit Hilfe von Schleppern waren die beiden auf einem langen, harten, glühend heißen Weg via Bulgarien nach Griechenland gelangt und von dort mit einem Schiff weiter bis ins Europa ihrer Träume. Es dauerte ein ganzes Jahrzehnt, bis sich die zurückgebliebene türkische Familie mit ihrer Tochter versöhnt hatte, und ein Grund dafür war sie gewesen, Şirîn,die Süße auf sanften Sohlen. Frucht einer Liebe über Grenzen und Konventionen hinweg.
    Im Nachhinein hatte ihr Vater sich schwerste Vorwürfe gemacht, nach Westen gezogen zu sein, die Geliebte im Schlepptau, und ohne eine Ahnung, was sie dort erwarten würde. Und

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